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Hexenstein

Hexenstein

Titel: Hexenstein
Autoren: Jakob Maria Soedher
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Seeglut
    Lange hatte eine eisige Kälte Menschen und Land in hemmendem Griff gehalten. Mit großem Gleichmut war die Landschaft um den See unter dem überraschend kalten Biss des Winters erstarrt. Der See selbst wogte sanft und unbeeindruckt. Die Menschen waren während dieser Wochen und Monate einsilbiger geworden. Straßen und Gassen blieben ungewohnt still und einsam; selbst die Ankunft des Frühjahrs vermochte den eisigen Schauer zunächst nicht zu mildern. Erst nach einem kühlen Osterfest ließen sich wohligere Temperaturen fühlen.
    Umso erstaunlicher war zu beobachten, mit welcher Kraft die Natur dem von der Kälte geschaffenen Grau, das behäbig und wie ein zehrender Tau über allem lag, ihre leuchtenden Farben entgegenreckte, und einige Wochen später der Winter ganz vergessen war, wie alle anderen vor ihm auch. Nur eine Ahnung war geblieben, eine verdrängte Erinnerung an das beißend Kalte, Kühle und Klamme, das irgendwann wiederkommen würde.
    Das lebenssatte Grün eines späten Mai pochte aus Bäumen, Wiesen und Gärten. Die ersten Rosen verstrahlten süßen Duft und Farbe und der alte Gefährte See spiegelte ein so sorgloses Blau, als wollte er lächeln. Nie schien es anders gewesen zu sein.
    Wie der eisige Winter selbst, so war auch der Jammer über die von ihm ausgegossene Kälte vergessen und nun stand das Klagen über die doch in dieser Heftigkeit unerwartete Hitze des Frühjahrs bevor. Tatsächlich hatten sich die Temperaturen innerhalb weniger Tage wie im Fieber gesteigert, sodass ein Stück Sommer schon jetzt vorweggenommen war. Ein beständiger, aber unaufdringlicher Wind flog von den Schweizer Bergen heran, gab dem Wasser Bewegung, milderte die Wärme und brachte spürbare Frische in die Cafés an den Uferpromenaden.
    Mit der neuen Jahreszeit war auch das befreite Leben am See zurückgekehrt. Vor den Ampeln warteten nun lange Fahrzeugschlangen, in den Gassen hallten die Geräusche von Ausgelassenheit wider und aus dem Blau des Sees stachen die weißen Segel der Boote hervor, wie Botschafter einer guten Zeit, und machten dem, der es zuließ, den Blick wie auch den Geist weit.
    Wie alle anderen Orte am See, so füllte auch Lindau seine reichen Reservoire mit Gästen, die nun von allen Seiten in die Stadt drangen. Der Campingplatz am Zecher Hafen war bereits gefüllt, was zu sehen und zu hören war, und in den Gärten ringsherum wurde an den erträumten Paradiesen gestaltet. Auf der gegenüberliegenden Seite des Wassers, wo hinter Leuchtturm und Löwe der Lindauer Hafen lag, blieb kein Tisch unbesetzt. Löwe und Leuchtturm vermittelten Sicherheit, wie auch das dumpfe Tuten der Bodenseedampfer und das gedämpfte Grollen der Dieselloks, das sich vom Bahnhof her über die Insel ausbreitete. Eine Brise, frisch und unermüdlich, lief über den See und brachte einen letzten Hauch Leichtigkeit mit sich.
    Dann kam die Nacht.
    Mit Ankunft der Dämmerung ließ auch der Wind nach, ohne jedoch völlig zu verebben. Die aufgeregte Geräuschkulisse der ersten Reisewelle schwoll ab und die Klänge und Laute der Natur wurden hörbarer. Als bald darauf die ersten Lichter aus dem Dunkel drangen und die Nacht den See eroberte, zog eine frische Brise über das Wasser. Von den schweizerischen Hügeln schimmerten Lichterketten herüber und die Scheinwerfer einsamer Fahrzeuge, die durch das Dunkel und über kehrenreiche Straßen des Appenzell fuhren, erschienen aus der Ferne wie orientierungslose Glühwürmchen.
    Weit nach Mitternacht, als der Schlaf über das Land gekommen und beinahe alles künstliche Licht rund um das Wasser erloschen war, als über allem nur die Sterne funkelten und ein halber Mond, zu dieser Zeit schlug das grelle Licht einer blanken Glühbirne aus den Fenstern eines Hauses, dessen großzügiges Abmaß im Widerschein des fahlen Lichtes erkennbar wurde. Bald darauf erlosch der unnatürliche Schein und eine Gestalt erschien in der Haustüre, zog sie leise zu und trabte mit müden Schritten zunächst in Richtung des Krankenhauses. In den Häusern und Gehöften von Hoyren war es ruhig.
    Die dunkle Kleidung ließ die sich langsam bewegende Gestalt im begrenzten nächtlichen Farbraum verschwinden. Nur der Straßenbelag war hell genug, dass die langsam fortschreitende Figur als Schatten erkennbar wurde. Wenn es aber möglich war, nutzte der Gehende die Grasflächen neben dem Teerweg. Es war nicht erforderlich mehr von diesem Menschen zu sehen, als die Haltung seines Körpers und die Art seines Ganges, um
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