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Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport

Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport

Titel: Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
Autoren: cbj Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Einleitung
    Von Wendy Leigh, Tochter von Marion Charles
    Bis zum Alter von neun Jahren ging ich wie selbstverständlich davon aus, meine Mutter sei Engländerin.
    Als Kind wusste ich nur, dass sie in Cambridge aufgewachsen war, an der London School of Economics studiert hatte, William Shakespeare, Charles Dickens und Rupert Brooke liebte und immer aufstand, wenn im Radio »God Save the Queen« gespielt wurde.
    Ehrlich gesagt hat sie mich auch immer an die Königin von England erinnert, die Queen, nur dass ich sie noch schöner fand.
    Und sie war nicht nur schön, sie war auch freundlich und klug. Sie schrieb Kurzgeschichten für mich, kleine Theaterstücke und auch Gedichte.
    Den Anfang eines ihrer Gedichte kenne ich noch heute auswendig:
    Mamas sind zum Küssen und Knuddeln da,
    sind sie weit weg, vermisst man sie unsagbar.
    Was diese Worte bedeuteten, begriff ich erst, als ich mit neun Jahren zum ersten Mal die autobiografischen Aufzeichnungen meiner Mutter las.
    Sind Mamas weit weg, vermisst man sie unsagbar. Aber natürlich! Meine Mutter hatte ihre eigene Mutter so viele Jahre entbehren müssen. Und auch ihren Vater. Und nun bereitete sie mich in gewisser Weise darauf vor, dass auch ich sie eines Tages vermissen würde.
    Erst als ich ihre Aufzeichnungen las, wurde mir schlagartig klar, dass meine Mutter gar keine Engländerin war. Sie war eine deutsche Jüdin.
    Über die Vergangenheit meiner Mutter hatte ich davor nichts gewusst, wohl aber, dass meine Großmutter Deutsche war. Alles an ihr war deutsch, sehr deutsch. Nicht nur ihr Akzent; sie war deutsch in allem, was sie sagte und tat.
    Zum Geburtstag schenkte sie mir Katzenzungen, zum Sonntagskaffee buk sie Honigkuchen. Sie schimpfte »Zum Donnerwetter!«, wenn ich ungezogen war, und wenn sie »unser Kaiser« sagte, hätte man meinen können, sie rede vom lieben Gott persönlich.
    Oh ja, meine Großmutter war Deutsche, daran bestand kein Zweifel.
    Doch erst aus den Aufzeichnungen meiner Mutter erfuhr ich, dass sie und auch meine Großmutter Jüdinnen waren.
    Ich wusste nichts über Juden oder über den jüdischen Glauben.
    Meine Mutter hatte es so gewollt.
    »Ich wollte dir ersparen, was ich durchgemacht habe«, sagte sie, lange nachdem ich ihre Aufzeichnungen gelesen hatte.
    Mutters Aufzeichnungen zu lesen hat meine Welt auf den Kopf gestellt und mir auch Angst gemacht.
    So erfuhr ich die Wahrheit über die Herkunft meiner Mutter, das Schicksal ihres Vaters, ihrer Großeltern, ihrer gesamten Familie und über ihre eigene nervenaufreibende Reise in die Freiheit – und die Bilder und Worte, die ihre Geschichte in mir wachrief, erschütterten mich zutiefst.
    Kristallnacht, Gestapo, SS, Kindertransport, Auschwitz, Theresienstadt, Adolf Eichmann, Gaskammern, Leichen, Tod und Vernichtung.
    Diese Worte und Bilder waren so mächtig, so real für mich, dass ich nach der Lektüre damals als Neunjährige zwei Jahre lang glaubte, dass meiner Mutter nach meinem zehnten Geburtstag etwas sehr Schlimmes zustoßen würde, wir getrennt werden und uns niemals wiedersehen würden.
    Zum Glück verlief mein zehnter Geburtstag sehr friedlich und niemand nahm mir meine Mutter weg oder mich ihr.
    Aber sicher und beschützt habe ich mich danach nicht mehr gefühlt. Eigentlich nie mehr nach jenem verhängnisvollen Tag, als ich die Aufzeichnungen meiner Mutter zum ersten Mal gelesen hatte.
    Seit damals waren selbst kleine, unbedeutende Dinge mit Traurigkeit behaftet, wie zum Beispiel das Lied Hänschen klein:
    »Hänschen klein, ging allein,
    in die weite Welt hinein.
    […]
    Aber Mama weinet sehr,
    hat ja nun kein Hänschen mehr …«
    Oder wie Dorothy im Zauberer von Oz, die von einem Land träumt, von dem sie einst in einem Kinderlied gehört hat.
    Oder wie ET, der sich danach sehnt, nach Hause zurückzukehren.
    Dann war da noch die schmerzliche Last ihrer Vergangenheit. Der Schmerz, der mich beim Anblick des goldenen Medaillons meiner Mutter überfiel, in dem sich zwei verblasste kleine Fotos ihrer Eltern befanden, denen meine Mutter als Kind jeden Abend einen Gutenachtkuss gegeben hatte.
    Der Türkisring, in den die Worte »Gott mit Dir« eingraviert waren und den ihre Eltern ihr schenkten, bevor sie sie aus Deutschland wegschicken mussten.
    Und ein vergilbter gehäkelter rosafarbener Schal.
    Es gab auch die vielen Unterlagen, die Mutters Geschichte belegten: ihre Tagebücher, die herzzerreißenden Briefe, die ihre Eltern ihr geschickt hatten, die vielen betont fröhlichen Briefe,
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