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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman
Autoren: Alison McGhee
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viel sie mich gekostet haben.
    »Jeden Morgen mache ich ihr Kaffee«, flüstere ich Toms Schulter zu. »Jeden Morgen nehme ich ihren Becher aus dem Schrank.«
    Ich schüttel meinen Kopf an seiner Schulter. Er zieht meinen Kopf hoch und legt die Hände rechts und links an mein Gesicht.
    »Hey«, sagt er. Er flüstert es direkt in mein Ohr. Ich atme ihn ein, seinen ganz eigenen Tom-Miller-Geruch nach warmer Haut und Sonne und Schweiß und Seife. Er riecht nach ihm selbst. Er riecht nach Leben.
    »Nie werden sie sie ansehen und wissen, wer sie war«, sage ich. »Nie werden sie wissen, wer Ivy war.«
    Er fragt nicht, wer sie sind, all die vielen sie da draußen, all die Leute, die je bei ihr hereinplatzen werden, zu der Tür, hinter der Ivy schläft, die an ihr Bett treten werden, um nach dem Krankenblatt zu greifen, das in alle Ewigkeit am Fuß ihres Bettes hängen wird, und es zu studieren. Seht sie doch an, möchte ich all diesen Leuten in meiner Vorstellung zubrüllen, die einfach bei ihr hereinplatzen – Seht sie doch an! Könnt ihr nicht wenigstens Guten Tag sagen, bevor ihr euch das Krankenblatt nehmt, das gottverfluchte Krankenblatt?
    Einen Vierteldollar bitte. Noch einen. Kling. Der geblümte Keramiktopf füllt sich nach und nach. Es wird langsam Zeit, damit zur Bank zu gehen, es gegen echtes Geld eintauschen.
    Worauf würde ich noch verzichten?
    Was würden sie verlangen, was würde sie besänftigen, sie, diewollen, dass ich auf Dinge verzichte, damit meine Schwester zurückkehren kann?
    Würde ich auf meinen Vater verzichten, der da unten im Park in New Orleans liegt, inmitten der sanften Töne einer Jazzband, wo Touristen mit ihren heißen Beignets an seiner schlafenden Gestalt vorüberschlendern? Mein Vater, um dessen Liebe ich Gott als Kind gebeten habe. Lieber Gott, bitte mach, dass mein Vater mich liebt.
    Ja, ich würde auf meinen Vater verzichten.
    Nehmt alles, ihr Götter. Nehmt, was ihr wollt, ihr, die ihr es in der Hand habt, mir meine Schwester zurückzugeben, und die ihr es trotzdem nicht tut.
    Jahre deines Lebens. Wir wollen Jahre deines Lebens.
    Okay. Dann nehmt euch ein paar.
    So viele wir wollen.
    Nur zu. Nehmt, so viele ihr wollt, verdammt noch mal. Nur gebt mir meine Schwester zurück.
    Wie viele Jahre meines Lebens bleiben mir?
    Ich sehe mich selbst als eine sehr alte Dame. In einem Schaukelstuhl, warm eingepackt in Pullover und zugedeckt mit Wolldecken. Meine Haare sind grau – nein, meine Haare sind nicht grau, denn ich habe ja keine Haare mehr. Ich habe sie hergegeben, um meine Schwester zurückzubekommen, damals, als ich noch ein Kind war. Weißt du nicht mehr? Ich trinke Tee ohne Zucker, den jemand anderes für mich gekocht hat, weil ich zu alt und zu schwach bin, um aus meinem Schaukelstuhl aufzustehen. Jeden Abend trägt mich jemand ins Bett und deckt mich mit einer Heizdecke zu, denn mir ist immer kalt, so wie allen alten Frauen immer kalt ist. Niedriger Blutdruck.
    Wie viele Jahre bleiben mir?
    Sechs.
    Nehmt sie. Ihr könnt sie haben. Alle sechs.
    Nein, das sind nicht die Jahre, die wir wollen. Wir wollen ein paar von den anderen. Jahre, in denen du dich bewegen kannst, Jahre, in denen du nicht neun Pullover übereinander trägst, Jahre, in denen alle, die du liebst, noch am Leben sind und du noch auf einen Berg in den Adirondacks steigen und oben sitzen und deinen Blick über die Farben des Herbstes schweifen lassen kannst, Farben wie Flammen. Das, das sind die Jahre, die wir wollen.
    Wenn es nichts gibt, worauf ich nicht verzichten würde, um meine Schwester zurückzubekommen – heißt das: mein eigenes Leben? Würde ich auf mein eigenes Leben verzichten?
    Es gibt einen Punkt, an dem du aufhörst, auf Dinge zu verzichten. Dahinter kommt das, worauf ich nicht verzichten werde. Nichts davon werde ich aufgeben für meine schöne Schwester Ivy, die in dem Bett liegt. Ivy, die einmal gelebt hat. Ivy, die einmal war. Ivy, die einmal. Ivy, die.
    Ivy-aber-nicht-ich.
    Nicht ich. Nicht ich. Nicht ich.

12
    »Was ist mit dem jungen Miller?«
    »Tom Miller? Was soll mit dem sein?«
    Meine Mutter starrt mich an. Ihre Finger sind mit den Kranichen beschäftigt. Die große Schachtel hat sie unten bei Ivy gelassen, aber die große Schachtel war immer noch nicht groß genug, hat sie gesagt. »Da sind nur achthundert drin«, hat sie gesagt. »Ich brauche aber tausend.« Inzwischen faltet sie Kraniche, ohne hinzuschauen. Sie macht sie aus allem, was ihr unter die Finger kommt. Aus Zeitungspapier.
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