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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman
Autoren: Alison McGhee
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rührte sich nicht.
    Die Hand, die sich auf das Haar meiner Mutter gelegt hatte, fing an darüberzustreichen. Von oben nach unten, von der Schädeldecke bis dorthin, wo die Haare die Schultern berührten. Und wieder hoch und hinunter. Glätten und streicheln, glätten und streicheln. Immer im selben Rhythmus. William T.s Blick ruhte auf Crystal, die stumm weinte, und seine Hand bewegte sich wie von selbst, so als wüsste sie von allein, was zu tun war, unabhängig von jedem Gedanken, so als geschähe alles aus einem Instinkt heraus: Ja. Genau das ist hier zu tun.
    Meine Mutter konnte ihre Tochter nicht verlieren. Sie konnte die Worte nicht sprechen, die ihnen erlaubten, das Beatmungsgerät von Ivys Körper zu trennen, die Ivys Körper erlauben würden, langsam aufzuhören mit dem Versuch, Luft zu holen, die ihrem Herzen erlauben würden, nach und nach damit aufzuhören, sich zusammenzuziehen, wieder und wieder und wieder.
    »Sie ist also nicht hirntot?«, fragte sie.
    Der junge Arzt wandte den Blick ab.
    »Sie hat versucht zu atmen, das heißt doch, sie ist nicht hirntot, hab ich recht?«
    Er wandte den Blick ab, hielt ihn abgewandt.
    »Nicht amtlich«, sagte er schließlich. »Nicht nach dem Gesetz.«
    Meine Mutter bürstet Ivy immer weiter die Haare, dann legt sie die Bürste aus der Hand. Sie nimmt die Haare auf eine Seite und fängt an, einen Zopf zu flechten. Löst den Zopf wieder. Streicht mit den Fingern durch das lange weiche Haar. Kämmt es mit den Fingern. Senkt den Kopf und legt die Wange an die lange Strähne, atmet ein. Atmet aus. Sie dreht den Kopf zu mir und William T.
    »Ich wünschte, ich hätte sie gehen lassen«, flüstert sie. »Ich wünschte, ich hätte sie gleich gehen lassen.«

11
    Als der Tag dann kam, saß ich am Bett meiner Schwester auf dem grünen Stuhl. Kein Pompeji mehr. Kein Baby im Binsenkörbchen, kein Baby, das nie mehr aufwachen sollte. Adieu, Baby. Adieu, Mutter, die es nicht retten konnte.
    Ich lese im Führerscheinhandbuch. Bereite mich auf die Prüfung vor, die in drei Tagen stattfinden soll.
    »Es wird Zeit, Kleine«, sagt William T. »Du kannst nicht immer und ewig hier sitzen und in diesem gottverfluchten Handbuch lesen.«
    »Macht einen Vierteldollar.«
    Er ignoriert mich. Vielleicht findet er, dass ich jetzt alt genug bin und Flüche keinen schlechten Einfluss mehr auf mich haben. Vielleicht findet er, ich bin jetzt groß genug und mir kann nichts mehr passieren.
    »Irgendwann ist der Zeitpunkt da, Kleine, wo man das Buch beiseite legen und auf die Tube drücken muss. Und der Zeitpunkt ist jetzt, weiß Gott, gekommen.«
    Er dreht sich auf seinem blauen Stuhl zur Seite und zeigt mit dem Zeigefinger zum Fenster hinaus, auf den schmalen Streifen aus grauem Asphalt, der sich hinter der Einfahrt zum Pflegeheim Rosewood durch die Landschaft windet.
    »Die Straße ruft!«, sagt William T., dann wendet er sich an Ivy in ihrem Bett. »Was meinst du, Große? Wird es nicht Zeit,dass die Kleine den Hintern hochkriegt und sich ans Steuer setzt?«
    Ivy bleibt stumm. Nur das feine Säuseln des Beatmungsgeräts ist zu hören. Meine Schwester, meine schöne Schwester mit dem weichsten Haar der Welt, meine Schwester, deren Haar nie so weich war, als sie noch lebte.
    Jetzt ist es passiert. Das, wovon ich nie wollte, dass es passiert. Ich habe die Worte als sie noch lebte gedacht.
    Ich habe es nicht so gemeint, Ivy! Ivy, das war keine Absicht! Ivy, ich lass dich nicht gehen!
    Sie schlägt die Augen nicht auf, sieht mich nicht an und sagt nicht: Ich weiß, du hast es nicht so gemeint.
    Sie sagt nicht: Andererseits, Rosie – es stimmt, was du gesagt hast. Ich habe gelebt, aber jetzt lebe ich nicht mehr.
    Sie sagt nicht: Bitte, Rosie, lass mich gehen.
    Ich bin diejenige, die lebt. Ich kann zu der Tür dort drüben hinausgehen. Ich kann sie mit beiden Händen aufreißen und mit großen Schritten den Flur hinuntergehen. Ich kann um die Ecke biegen und verschwinden. Wenn ich will, kann ich zu Fuß den ganzen Weg bis hinauf in die Adirondacks gehen, weil ich nämlich lebe. Ich lebe , und mein Körper pumpt sich selbst voll mit Sauerstoff, mein Blut fließt frei, und ich lebe, lebe, lebe.
    Ein Vogel landet auf dem Fensterbrett und sieht sich um, sieht ins Zimmer herein, wo ich auf dem grünen Stuhl sitze und William T. auf dem blauen und Ivy mit gefalteten Händen im Bett liegt. Der Vogel sieht, dass unser Zimmer ein enger Raum mit hohen Wänden ist. Unmöglich, von hier aus die weite Welt zu sehen,
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