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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman
Autoren: Alison McGhee
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sie, aus dem Kiefernwäldchen auf der anderen Straßenseite. Hu-hu-huuu, wer bist du? Hu-hu-huuu, wer bist du?
    Tom dreht sich auf die Seite und wiegt mich in seinen Armen. Wir küssen uns nicht. Irgendwann in dieser Nacht verstummt der Ruf der Eule, und auch der Nachtschattenvogel beendet seine Klage. Das glaslose Fenster erscheint wie ein verschwommenes Stück nicht ganz so dunkler Dunkelheit, wird zu einem indigoblauen Rechteck, wird zum Blau des Winterpullovers meiner Mutter, wird zu Aquamarin, wird zum Rosaweiß der Morgenröte am Himmel.
    Tom schläft. Er liegt auf dem Bauch, seine Arme bilden einKissen unter seiner Stirn. Ich stütze mich auf und sehe ihn an. Er liegt ganz still.
    Ich beobachte seinen Rücken unter dem T-Shirt, will sehen, wie er im Schlaf atmet. Nichts. Nichts. Nichts. Lebt er überhaupt noch? Dann eine Bewegung. Ganz leichtes Heben des abgetragenen Baumwollstoffs. Und ganz leichtes Senken. Dann nichts. Nichts. Nichts. Dann wieder leichtes Heben. Leichtes Senken.
    Ich atme den Geruch seiner Haare ein. Es wellt sich über seinem Kopf, folgt der Form des Schädels. Kann sein, dass er sich selbst die Haare schneidet. Bei diesem Schnitt muss man dem Friseur jedenfalls nichts erklären.
    »Einfach irgendwas anderes«, habe ich Frauen beim Friseur schon sagen hören. »Ich bin mein Aussehen so verdammt leid.«
    Nicht so Tom Miller. Ich sehe ihm beim Schlafen zu. Sein T-Shirt, seine Jeans, seine Laufschuhe, die er irgendwann mitten in der Nacht ausgezogen haben muss, denn sie liegen neben uns. Seine Haare. Die lange Bewegungslosigkeit seines Rückens, dazwischen das leichte Heben, das leichte Senken seines Rückens. Seine Lungen, die im Innern ihre Arbeit tun. Sein Herz, das pumpt, pumpt, pumpt. Sein Blut, das durch all die Passagen und um all die Biegungen seines Körpers fließt. Ob er träumt?
    Ich zittere, und Tom wacht auf. Es ist bereits so hell, dass ich sehen kann, wie er die Augen aufmacht.
    »Ist dir kalt?«, fragt er. »Ist dir kalt, Baby?«
    Er dreht sich herum und nimmt mich wieder in die Arme.
    Ist dir kalt, Baby? – und das Knäuel aus Schmerz in mir schwillt an. Wie weh das tut. Jeden Tag ist der Schmerz von Neuem da, erwacht wieder in diesem kurzen Moment zwischen Traum und Tag, wenn dein Körper noch keine Kraft hat, wenn du noch ganz schlaff bist vom Schlaf. In jenem kurzen Moment können meine kräftigen Finger – Finger, die jedes Unkraut aus dem Bodenziehen können, schweren Teig kneten können, die eins-zwei-drei einen Maiskolben schälen können –, dieselben Finger können sich nicht einmal zur Faust ballen. Sind einfach hilflos. Babyfinger.
    Jeden Morgen überkommt es mich aufs Neue, dass Ivy nicht zu Hause ist. Wellenartig kommt es über mich, eine Welle, noch eine, noch eine, sie überschwemmen mich. Jeden Morgen liege ich im Bett, bis meine Muskeln sich bewegen können. Dann stehe ich auf. Gehe in die Küche. Auf nackten Füßen. Über die Holzdielen mit ihren Splittern. Koche Kaffee. Wenn der Kaffee fertig ist, rufe ich vom Fuß der Treppe nach oben:
    »Kaffee, Mom!«
    Jeden Morgen sage ich das in demselben Tonfall. Gleich nach dem Unfall habe ich versucht, es zur Routine werden zu lassen. Siehst du , wollte ich meiner Mutter damit sagen, damals im März. Siehst du? Dies ist immer noch ein Leben, in dem es so etwas gibt wie Kaffee, Kaffee am Morgen. Jeden Morgen mache ich den Küchenschrank auf und nehme ihren Lieblingsbecher heraus, den mit den Osterglocken, und stelle ihn neben die Kaffeekanne auf den Küchentresen. Nehme die halbfette Milch aus dem Kühlschrank. Gieße sie in den Becher. Löffle die richtige Menge Zucker hinein.
    »Kaffee, Mom!«
    Dann kommt sie.
    »Danke, Rose.«
    Das ist alles. Das ist jetzt unsere Morgenroutine. Kaffee, Mom. Danke, Rose.
    Kaffeemomdankerose. Kaffeemomdankerose. Kaffeemomdankerose. Kaffeemomdankerose. Kaffeemomdankerose. Bald wird es Zeit für mich, ins Haus zu gehen und Kaffee zu kochen, damit die Routine eingehalten wird. Aber warum? Welchen Sinn hat das? Ich lehne den Kopf an Toms Schulter, und er streicht mir mit der Hand übersHaar, wieder und wieder, und ich fühle seine Lippen oben auf meinem Kopf. Er küsst mich auf den Kopf und sagt nichts. Mein Haar ist statisch aufgeladen, weich gemacht, beruhigt, alles auf einmal, durch Toms streichelnde Hand. All die Morgen seit März laufen durch mich hindurch – Kaffeemomdankerose –, überkommen mich wie eine Welle, und während ich da im Heu liege, weiß ich auf einmal, wie
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