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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman
Autoren: Alison McGhee
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Aus der Comicbeilage der Sonntagszeitung. Karikaturenköpfe mit großen Nasen, Katzen und kleine Vögel und Hunde mit riesigen traurigen Augen spähen von den anmutigen, fertigen Kranichen herüber, den fast tausend Kranichen, die meine Mutter gemacht hat.
    »Liebst du ihn?«
    »Ja.«
    Sie nickt. Einmal. Ein kurzes, geschäftsmäßiges Nicken.
    »Ein guter Junge.«
    So viel fehlt zwischen Liebst du ihn und Ja . So viel fehlt, zum Beispiel meine Gefühle in jener Nacht im Heuschober. Ich möchte jemandem erzählen von Tom Miller, davon, wie es war, seine Arme um mich zu spüren, davon, wie er einmal in der Schule Wasser trank, davon, wie alle Farben der Welt eingefangen waren in den Blättern, die durch die Luft wirbelten und langsamzur Erde sanken. Von der Nacht, als wir beide am Gedenkstein für seinen Vater auf der Dorfwiese saßen, jener Nacht, als die Luft so lau war und die Grillen zirpten und der Mond groß und rund am Himmel hing, Hunderttausende von Meilen entfernt. Ich wollte Tom von Pompeji erzählen, von dem Baby in seinem Binsenkörbchen in der Ecke, dem Baby, das nicht ahnte, was da auf es zukam. Dass die Asche, die schon bald die Stadt bedecken sollte, nicht in einem sanften Wirbel aus einem tiefblauen Himmel herabschwebte. Diese Asche kam in einem wütenden Sturm, einem schwarzgrauen Sturm, der alles auslöschte, Geräusche, Luft, Leben.
    Meine Mutter arbeitet an ihren Papierkranichen. Keine weiteren Fragen nach Tom Miller. Sie weiß nicht, wie er seine Arme um meine Rippen legte.
    »Spürst du, wie fest meine Arme um dich liegen?«, hat er gesagt. »So fest halte ich dich. Ganz gleich, wo du hingehst oder wo ich hingehe, denk immer daran: So fest halte ich dich.«
    Erinnerungen verblassen nicht. Du vergisst nichts. Wenn du etwas heraufbeschwörst, was einmal geschehen ist, wenn du es durch Raum und Zeit wieder heranschweben lässt, dann geschieht es von Neuem. Wenn ich achtzig bin und auf mein Leben zurückblicke, dann werde ich wieder mit Tom Miller im Heuschober sein, in jener Nacht, als er mich so fest gehalten hat.
    Kraniche hängen jetzt von der Decke in Ivys Zimmer. Meine Mutter hat nicht aufgehört, sie zu falten, einen nach dem anderen. Sie saß auf dem blauen Stuhl, während William T. auf einem orangeroten Stuhl saß, den Angel für ihn hereingerollt hat. Alle Arten von Papier hat sie benutzt: Zeitungspapier, ausgerissene Seiten aus Zeitschriften, weihnachtliches Geschenkpapier, eine Seite aus dem Telefonbuch von Utica. Sie hat aus RechteckenQuadrate gefaltet und den überstehenden Rand erst umgeknickt und dann abgerissen. Die Größe war ihr völlig egal. Ihre Kraniche kamen in allen Formen und Größen.
    »Misst du je nach, Connie?«, hat Angel einmal gefragt. Connie und Angel. Sie waren jetzt per Du.
    »Nein, Angel, nie.«
    Jetzt blickt Angel hoch zu den Kranichen, die an der Decke schweben. Meine Mutter bindet sie an Fäden und trennt sie voneinander mit Teilen von Strohhalmen, wie man sie im Schnellimbiss bekommt. Manchmal, wenn ich mit ihr auf dem Weg zu Ivy bin, mache ich einen Abstecher zu einem Drive-in-Restaurant.
    »Was darf 's sein?«
    »Drei Strohhalme.«
    »Wie bitte?«, quakt die Mikrofonstimme.
    »Drei Strohhalme.«
    Pause.
    »Was noch?«
    »Nichts.«
    Pause.
    »Fahren Sie vor zu Schalter eins.«
    Wir fahren vor zu Schalter eins. »Drei Strohhalme.« – »Danke.« – »Bitte. Bis zum nächsten Mal.«
    Der Tag meiner Führerscheinprüfung war schnell da und genauso schnell vorüber. Als es so weit war, sind William T. und Tom mit mir im Datsun hingefahren, damit ich die Prüfung in dem verrosteten roten Datsun machen konnte, dem Auto, in dem ich auch fahren gelernt hatte, dem Truck mit der Knüppelschaltung, die laut William T. butterweich ist. »Diese verfluchten Japaner haben es einfach drauf, Schaltungen zu bauen«, sagte William T. »Die stecken Detroit locker in den Sack.«
    Der Mann, der die Prüfung abnahm, hatte ein Klemmbrett ähnlich dem am Fußende von Ivys Bett. Ich war völlig entspannt während der Prüfung, und er auch. Rückwärts einparken klappte perfekt. Dann ging's nach den Anweisungen des Mannes durchs Zentrum von Utica. Alle fünf Sekunden habe ich in den Rückspiegel geschaut. Ich habe gebremst. Habe gefühlvoll Gas gegeben. Habe mich vergewissert, dass ich richtig angeschnallt war.
    »Nun?«, sagte ich am Ende, als der Mann sagte, ich solle rechts ranfahren.
    Eigentlich fragt man nicht, wie man gewesen ist. Man fragt nicht, ob man bestanden hat oder
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