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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman
Autoren: Alison McGhee
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mit erhobenen Fäusten, Worte fliegen aus ihrem Mund. Schweigen? Das nicht.
    Meine Mutter weiß auch um die Macht des Schweigens. Sie nutzt sie selten, aber sie steht ihr zur Verfügung. Jetzt nutzt sie sie. Sie stellt ihren Körper ruhig. Das tut sie so gut wie nie, und es dauert eine Weile, bis es ihr gelingt. Zuerst hält sie den Schaukelstuhl an. Dann zieht sie die Beine hoch und kreuzt sie vor sich im Stuhl. Dann legt sie die Hände auf die Knie und spreizt die Finger, damit nicht einer einen anderen berührt. Dann schließt sie die Augen. Achtet darauf, ruhig zu atmen. Sie wird so reglos, wie es meiner Mutter überhaupt nur möglich ist. Sie zieht sich ganz in sich selbst zurück.
    »Manchmal gehen wir in den Heuschober«, sage ich, als genügend Zeit vergangen ist, sodass sie weiß, dass ich ebenso schweigen kann wie sie.
    Sie rührt sich nicht.
    »Und manchmal gehen wir hinunter zur Dorfwiese«, sage ich. »Da steht der Gedenkstein für seinen Vater. Da sitzt er nachts gern.«
    Mehr sage ich nicht. Dann warte ich. Jetzt bin ich an der Reihe.
    »Ich erinnere mich an Chase Miller«, sagt meine Mutter, nachdem ich lange gewartet habe. »Ich war noch ein kleines Mädchen, als er in den Krieg zog.« Und nach wieder einer langen Weile sagt meine Mutter. »Bist du sicher, dass dir nichts passieren kann?«
    »Nein.«
    Was sonst könnte ich darauf antworten? Kann irgendwer von uns sicher sein, dass ihm nichts passiert? Wie stehen wir das durch? Wie – wenn wir doch alle wissen, dass wir unser Leben verlieren, ob wir es wollen oder nicht, wenn wir wissen, dass wir und alle, die wir lieben, dieses Leben verlieren – wie stehen wir das durch? Ich will nicht sterben. Ich will nicht sterben. Ich will nicht sterben.
    Meine Mutter sitzt stumm in ihrem Schaukelstuhl. Ich gehe hinaus auf die Veranda und sehe zu, wie der Himmel sich pflaumenblau verfärbt wie ein mehrere Tage alter Bluterguss. Lege den Kopf in den Nacken und schaue hinauf zum Mond, der bleich und stumm dort hängt wie ein gebogener weißer Haken. Es ist erst August, doch schon fühle ich, wie der Winter Sehnsucht nach sich selbst bekommt, wie Luft und Erde auf das Eis warten, auf den Schnee, der im Norden des Staats New York so hoch liegen kann und alles Lebendige in Stein verwandelt.
    Ich sitze auf den Verandastufen und sehe den Fledermäusen zu, die in rauen Mengen aus dem Loch im Drahtgitter des oberen Scheunenfensters fliegen. Sie stoßen herab oder kreisen in der Luft und fliegen davon, einzeln oder in kleinen Gruppen, gehen auf Insektenjagd in der zunehmenden Dämmerung. Als es ganz dunkel geworden ist, gehe ich leise davon in die Nacht.
    Manchmal ist mein Ziel William T.s Feld auf der anderen Straßenseite, wo der Mais mit dem seidigen braunen Bart am Kopf jeder Ähre mich bereits überragt. Futtermais, mit großen Kernen, hart und trocken. Ich taste mich mit den Zehen voran, halte die Arme ausgestreckt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
    Doch heute Nacht ist es der Kiefernwald gleich unterhalb des Maisfeldes. Alles schläft: meine Mutter ihren traumlosen Schlaf,Ivy in Utica ihren ganz eigenen Schlaf, wie immer der jetzt sein mag. Ich setze mich hin, ziehe die Knie an die Brust und lege die Arme darum, falte mich zu einem Oval zusammen. Nach und nach passt mein Körper sich an die Ruhe der Bäume an.
    Eulen rufen.
    Kleine Tiere suchen sich ihren Weg durch den Kiefernwald.
    Fledermäuse schlagen mit den Flügeln, stoßen herab.
    Nach einer Weile geht mein Atem ruhiger, und meine Haut nimmt die Temperatur dieser Sommernacht an. Ich sitze geduldig und warte. Worauf, weiß ich nicht.
    Manchmal laufe ich die drei Meilen von der Route 274 zur Sterns Valley Road und dem festgefahrenen Erdboden der Williams Road. Manchmal kommt Tom mit. Manchmal gehe ich allein. Ich gehe durch Wellen warmer Luft und Wellen kalter Luft, die sich abwechseln aufgrund von etwas, was ich nicht verstehe, etwas, was Mr. Carmichael mir hätte erklären können, wenn ich ihn gefragt hätte, damals, im Naturkundeunterricht.
    Die Sternennacht hält einiges bereit, was ich noch nicht sehen kann: Bäume, die auf Licht warten, von Kiefern umstandene Seen, Vögel, die nur singen, solange die Sonne sich nicht zeigt. Ich bin an die Dunkelheit gewöhnt, bin es gewohnt zu warten. Eine Nachtschwalbe singt in der Ferne ihre Klage, einmal, zweimal, dreimal. Auf meiner anderen Seite erwidert eine zweite den Ruf.
    Oder ist das ein Echo? Hin und her geht der Ruf, Vögel, die in ihrer schrillen
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