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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman
Autoren: Alison McGhee
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Sprache ihre Trauer bekunden. In jener ersten Nacht zusammen im Heuschober flüsterten Tom und ich miteinander, hin und her, und unsere Münder waren so nah beieinander, dass ich spürte, wenn er schwach einatmete. Ich atmete gleichzeitig mit ihm. Seine Hand lag leicht auf meinem Kopf und strich mir übers Haar, wieder und wieder und wieder.
    Der schlanke Mond schwebt über den weißen Kiefern wie eine Boje im Dunkeln. Ich liege auf dem Rücken im taunassen Gras und schaue hinauf zu den funkelnden Sternen. Einer blinkt und verlöscht, während ich ihn ansehe. Wenn er nicht wieder erscheint, bin ich dann Zeugin seines Todes gewesen?
    Ivy machte sich nichts aus Sternen.
    »Der Planet Erde ist mein Terrain, er und sonst gar nichts«, hat sie gesagt.
    »Und all die anderen Welten da draußen?«, habe ich sie gefragt. »Pompeji? Der Hinckley-Stausee? Die Stringtheorie und das Higgs-Teilchen und die Millionen und Abermillionen von Sternen?«
    »Nein, danke.«
    »Warum?«
    »Darum.«
    »Darum was?«
    »Um Himmels willen, Rosie. Ich bin nicht wie du. Diese eine Welt hier reicht mir voll und ganz.«
    Ivy geht jetzt. Bald wird sie gegangen sein. Ivy und ich hatten einen Unfall. Es dämmerte schon in den Adirondacks an jenem Abend, und ein hellblauer Truck kam um die Kurve geschlittert, und nun wendet sich die Zeit für meine Ivy, windet sich um die eigene Achse, hebt sie hoch und setzt sie irgendwo anders ab, an einem Ort, den ich mir nicht vorstellen kann.
    Zum letzten Mal habe ich ihr heute aus dem Handbuch vorgelesen, dann habe ich es geschlossen. Ich kann jetzt fahren. Ich muss die Verkehrsregeln nicht mehr auswendig lernen. Ich habe die Hände auf die meiner Schwester gelegt.
    »William T.«, habe ich gesagt, »gibt es Schlimmeres, als zu sterben?«
    William T. sitzt auf dem blauen Stuhl. Er hat das Vogelbuchkomplett durchgearbeitet. »Kaum denkst du, du bist fertig«, hat er gesagt, »da kommen tausend neue Kraniche unbestimmter Gattung daher.« Er hatte die Hände still im Schoß liegen und sah hinauf zu den Papierkranichen. Vom Fenster her kam ein leichter Wind, und die Kraniche über meiner Schwester tanzten.
    »Ein Leben ohne Liebe ist schlimmer als sterben, Kleine.«
    »Aber würdest du auf Liebe verzichten, wenn du dafür deinen Sohn zurückhaben könntest?«
    »Geht nicht«, sagte er. »Meinen Sohn habe ich ja geliebt.«
    Liebe ist meine Mutter, ihre rastlosen Hände, die Papier in Vögel verwandeln. Liebe ist William T., der an seinem Herd steht und mir Rührei macht, ganz langsam, auf kleinster Flamme und mit viel Butter. Liebe ist Ivy, deren Umrisse sich einen Moment lang vor dem schwarzen Rahmen des glaslosen Fensters abzeichneten. Stehendes Wasser, fließe in mir, fließe durch mich hindurch; niemand kann meine Welt so lieben wie ich.
    »Ja«, hat meine Mutter gesagt. »Lasst sie gehen.«
    Und sie haben genickt. Kraniche flatterten um uns herum wie Seidenbänder, wie Strahlen von Licht, wie weiße Ballons, die zum Himmel aufsteigen, und William T. streckte die Hände aus und legte sie auf die meiner Mutter.
    Einmal, in einer dunklen Nacht, saßen wir im Kreis im Heuschober. Verbotene Zigaretten, verbotenes Bier, verbotene Uhrzeit, wir waren so voller Leben, und unsere Welt hatte keine Grenzen.
    »Was würdest du tun, wenn du keine Angst hättest?«, fragte Joe Miller meine Schwester.
    Da ist sie aufgesprungen. Es war Nacht. Der Mond hing hoch am Nachthimmel, und die Sterne verblassten neben ihm. Ich konnte ihre Augen nicht sehen. Ihre Augen waren verschwunden in der Schwärze jener Nacht. Das leise Tappen nackter Füße aufHeuballen drang an mein Ohr. Meine Schwester rannte. Mehr wusste ich nicht, nur, dass sie rannte.
    Dort in der Dunkelheit fand Ivy ihren Weg auf den obersten der schwankenden Heuballen. Joe Miller stand auf und schwenkte in der Dunkelheit die Arme im Kreis durch die Luft, immer weiter von dort, wo wir saßen, bis er das dicke Tau der Seilschaukel ertastete. Mit einem einzigen heftigen Schwung schickte er es in Richtung der unsichtbaren Ivy.
    »Ich hab's!«
    Solange ich lebe, werde ich diesen Moment im Ohr haben. Wie sie »Ich hab's!« rief, erfüllt von plötzlichem Glück. Joe Miller setzte sich wieder – das merkte ich an dem leichten Luftzug –, und wir warteten.
    Dann ein Rauschen, und meine Schwester flog über uns hinweg, mit einem triumphierenden Jauchzen. Alles, was später geschah, würde kommen, doch zunächst
     war da jener Moment, jener Moment mit Ivy über unseren Köpfen,
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