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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman
Autoren: Alison McGhee
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Sie schläft immer noch. Und so fingen sie an, auf mich einzureden. Du kannst doch nicht immer hierbleiben, Rose, oder? Du musst doch langsam dein normales Leben wieder aufnehmen, nicht wahr? Wieder zur Schule gehen, zur Sterns High, wo deine Freunde dich bestimmt alle vermissen und wo du bestimmt jede Menge Stoff aufzuholen hast. Du kannst ja gern jeden Tagnach der Schule herkommen, wenn du magst, haben sie gesagt, aber beim jetzigen Stand der Dinge ist niemandem damit gedient, wenn du an Ivys Bett sitzt. Nimm dein normales Leben wieder auf, das ist das Beste, was du für deine Schwester tun kannst.
    Woher wollen sie wissen, was für Ivy das Beste ist?
    Jimmy hat sich halb weggedreht auf seinem Platz und redet mit Warren. Thema? Die geodätische Kuppel oben auf dem Star Hill. Jimmy hat meiner Mutter und mir nach dem Unfall eine Karte geschickt.
    »Wenn ich's dir doch sage, die gehört der CIA«, behauptet Warren.
    »Das sagst du schon, seit ich dich kenne«, antwortet Jimmy. »Stell mal 'nen anderen Sender ein.«
    »Du wirst schon noch sehen.«
    Jimmy schüttelt den Kopf. »Das war ursprünglich eine Kommune. Ein Überbleibsel aus den Sechzigern, mit Bio-Gemüse und so.«
    »Genau das wollen sie dir ja weismachen«, sagt Warren. »Dir und der ganzen ahnungslosen Masse. Und du spielst ihnen auch noch in die Hände, Wilson.«
    Wie oft in meinem Leben habe ich solche Diskussionen zwischen Warren Graves und Jimmy Wilson über die geodätische Kuppel schon gehört? Leute wie Warren mit ihren Verschwörungstheorien sind ganz schön von sich überzeugt. Sie glauben, alles besser zu wissen als andere. Sie haben Zugang zu geheimen Informationen, die dem Rest der Welt vorenthalten werden. Sie sind Anhänger der Komplexitätstheorie.
    »Chaos und Komplexität«, hat Mr. Carmichael heute Morgen in Physik gesagt.
    Er stand an der Tafel und nickte langsam, so wie er es immermacht, wenn er neue Begriffe einführt. Noch etwas, woran sich in diesem Monat nichts geändert hatte.
    »Der Windhauch, der entsteht, wenn im Amazonas-Regenwald ein Schmetterling mit den Flügeln schlägt, kann in Japan einen Taifun auslösen«, hat er gesagt und dabei immer weiter langsam genickt. »Die winzigste Bewegung auf einer Seite der Erde löst etwas völlig Unerwartetes auf der anderen Seite aus. Etwas Unvorhergesehenes. Mit Folgen, die sich niemand hätte träumen lassen.«
    Und was ist mit Bewegungen, die nicht winzig sind? Was mit einer mittleren Bewegung, der Bewegung eines blauen Lastwagens, der in das Auto schlitterte, in dem Ivy und ich fuhren? Was ist mit dem Auslöser, was mit den Folgen?
    Ivy und ich hatten einen Unfall. Es dämmerte schon in den Adirondacks an jenem Abend, und wir kamen um eine Kurve.
    Jimmy dreht sich noch immer halb zum Mittelgang. Warren faselt noch immer von der CIA und der geodätischen Kuppel. Ich könnte schreien.
    »Soll das heißen, ich bin beschränkt?«, fragt Jimmy.
    »Wem der Schuh passt«, sagt Warren.
    Und so geht es hin und her, die ganze Zeit, so wie immer. Halt den Mund, Warren. Halt den Mund, Jimmy. Wissen die nicht, dass jetzt alles anders ist? Wie kann ihnen ihre bescheuerte geodätische Kuppel immer noch wichtig sein?
    Den ganzen Tag schon ist meine Schwester ohne mich gewesen. Was, wenn heute der Tag war, an dem sie die Augen geöffnet hat? Was, wenn heute der Tag war, an dem sie ihre Augen geöffnet hat, dem Schicksal zum Trotz, dem jungen Arzt mit den dunklen Locken zum Trotz, so wie das eine Mal, als die anderen alle sagten, das sei nur ein Reflex gewesen – was, wenn sie sich umgesehen hat und ich nicht da war? Ich habe Bauchschmerzen.Ich lege meine gespreizten Finger in den Schoß. Lang und schlank sind sie. Pianistenhände, wenn wir ein Piano hätten. Haben wir aber nicht. Wenn ich Schwimmhäute zwischen den Fingern hätte, wäre ich eine gute Schwimmerin, eine der besten weit und breit. Eine Ente wäre ich. Rose, das Entenmädchen.
    Ich lege eine Hand auf Jimmy Wilsons Oberschenkel.
    Jimmys Kopf fährt halb zu mir herum, doch dann stockt er. Er sitzt still. Sein ganzer Körper ist angespannt. Wie die Luft vor einem Sommergewitter, grünlich, elektrisch geladen. Ich spüre es durch die Finger hindurch, durch die Handfläche, die weiter auf seinem Schenkel liegt.
    »Hey«, sagt Warren. »Wilson! Ich rede mit dir. Hat dich der Schlag getroffen? Soll ich dir einen Bleistift zwischen die Zähne schieben?«
    Er wedelt mit der Hand vor Jimmys Gesicht herum. »Halloooooo?« Ich streiche über Jimmys
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