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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman
Autoren: Alison McGhee
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läuft herum.«
    »Komm morgen mit«, sage ich. »Komm morgen mit, und sieh sie dir an.«
    Wenn sie Ivy sehen könnte. Wenn sie sie sehen könnte, Ivy mit den gefalteten Händen, Ivy, die sich so gern bewegt hat, Ivy, die immer sagte: »Komm schon, Rosie – gehen wir ein Stück.«
    Meine Mutter dreht eine Haarsträhne um den Finger, lässt sie wieder aufspringen, dreht die nächste Strähne, lässt sie aufspringen. Sie sitzt an ihrem Kartentisch und arbeitet. Topflappen. Sie macht Topflappen.
    »Man kann nie wissen, was da draußen vor sich geht«, sagt meine Mutter.
    Mit den Fingern zieht sie eine rote Schlinge durch das Meer blauer Schlingen, die sie schon über die Stifte des kleinen Webrahmens gezogen hat. Sie zieht und drückt und führt die rote Schlinge hindurch. Rauf, runter, rauf, runter.
    »Hast du gewusst, dass der Großteil unserer Arzneimittel aus der Erde kommt?«, fragt meine Mutter. »Zum Beispiel aus dem Regenwald? Du stichst mit dem Spaten in ein Stück Erde, wo noch nie ein Mensch einen Spaten hineingestoßen hat, und dann schaust du, was in der Erde ist. Untersuchst sie gründlich. Mikroorganismen, die noch nie jemand gesehen hat. Wer weiß denn schon, was die alles können? Vielleicht sind sie ja in der Lage, Ivys Gehirn gesund zu machen, die Blutung zu stillen oder was das ist.«
    Wieder führt sie eine rote Schlinge durch die blauen. Inzwischen ist sie so geschickt darin, dass sie kaum noch hinsehen muss.
    »Das ist alles noch Neuland«, sagt sie. »Voller Geheimnisse.«
    Am nächsten Tag steht Jimmy Wilson an meinem Schließfach.
    »Hey, Jimmy.«
    Sein Gesichtsausdruck ist anders als sonst. Irgendwie entschlossen. Er sieht mich fest an, so als hätte er mir eine Frage gestellt, schon vor einer Weile, und wartete inzwischen ungeduldig auf die Antwort. Vorn auf der Karte, die er meiner Mutter und mir nach dem Unfall geschickt hat, war ein Bild von einer Vase mit Veilchen. Liebe Rose, liebe Mrs. Latham , hatte er geschrieben, es tut mir so leid. Darunter sein Name: Jimmy W.
    »Was gibt's, Jimmy W.?«, frage ich.
    Er sieht mich weiter an. Wartet. Ich warte auch. Das Wasser in mir pocht in meinen Adern – raus, raus, raus –, es will hinaus.
    »Und – was machst du so heute Abend?«, frage ich.
    Er schüttelt den Kopf. Er wartet immer noch.
    »Ich sag dir, was ich mach«, sage ich. »Ich will zum Fluss, zur Sterns Gorge, Steine flippen. Warum auch nicht? Es ist noch lange hell.«
    Mehr war nicht nötig.
    Im Zwielicht stehe ich auf meinem Lieblingsfelsen unten am flachen Flussbett in der Sterns Gorge. Da stehe ich immer, wenn ich Steine flippen gehe. Gerade werfe ich den letzten der vielen Steine, die ich in meinem Hemd gesammelt habe. Ich drehe mich um, und da steht er. Mit demselben entschlossenen Blick.
    »Hast du mich erschreckt!«, sage ich. »Ich konnte dich nicht hören, das Wasser ist so laut.«
    »Warum hast du das gestern gemacht?«
    Genau da hätte ich aufhören können. In dem Moment hätte ich den Rückzug antreten können. Wieder die Rose von früher sein, die Rose, die Jimmy Wilson immer schon gekannt hat, die auf seine verliebten Annäherungsversuche nie reagiert hat, weil sie nicht das Gleiche empfand und ihn nicht verletzen wollte. Ich hätte sagen können, was ich schon auf der Zunge hatte, nämlich: Ich weiß nicht.
    Ich habe wieder dasselbe Gefühl, das ich hatte, bevor ich ihm die Hand auf den Oberschenkel legte, nämlich: Hilf mir. Mein Körper fliegt auseinander, ich bestehe nur noch aus Scherben. Dann hatten sich meine gespreizten Finger ganz von selbst auf sein Bein gelegt. Hatten Jimmy Wilsons Muskeln durch den verschlissenen Stoff seiner Jeans gespürt.
    Doch ich höre nicht auf.
    »Darum«, sage ich. »Mir war einfach danach.«
    Dann mache ich einen Schritt auf ihn zu. Beinahe weicht er zurück, doch dann bremst er sich. Ich mache noch einen Schritt, und noch einen, und dann stehe ich direkt vor ihm. Wir sind fast gleich groß.
    Ich lege meine Hände auf seine Schultern und den Kopf zur Seite. Er küsst mich.
    Ich wusste nicht, dass es so leicht sein würde. Ihm bleibt fast die Luft weg. Ganz schnell sind wir am Boden, und ich ziehe mich aus. T-Shirt, Jeans, BH, Unterhose. Er hat jetzt auch nichts mehr an, im nächsten Moment hat er ein Kondom, dann liegt er auf mir, und sein Atem kommt in kurzen Stößen, die Augen hat er geschlossen.
    Es tut weh – so weh – so weh – wo bin ich? Ich bin oben, ich bin daneben, ich bin ein winzig kleiner, unberührbarer Garten
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