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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman
Autoren: Alison McGhee
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ohne Eingang und Ausgang, ich bin ein darüberschwebenderVogel. Ich bin ein Kampfjet, der sich über den Ausläufern der Berge in die Höhe schraubt und beobachtet, was sich da unten am Boden tut, auf dem langen, flachen, warmen Felsen des Flusstals. Und dann ist es vorbei. Jimmy rollt auf die Seite und bleibt so liegen.
    Er schlägt die Augen auf.
    »Rose.«
    Da ist etwas in seiner Stimme. Er will mir etwas sagen. Seine Augen sind dunkel, suchend. Ich stehe auf und ziehe mich komplett an. Ich spüre den Schmerz. Den Schmerz in meinem Körper. Der Schmerz fühlt sich gut an, lebendig – und dann ist auch das vorüber. Ich beuge mich hinunter, hebe einen Stein auf, einen guten, und lasse ihn in weitem Bogen fliegen. Er schnellt über das eilig dahinschießende dunkle Wasser im flachen Flussbett.
    Am nächsten Tag ist Jimmy wieder da, steht an meinem Schließfach.
    »Rose.«
    Ich organisiere gerade meine Bücher neu. Ich habe beschlossen, das obere Fach meines Spindes zum Bücherregal zu machen. Ein perfektes kleines Regal mit alphabetisch geordneten Büchern.
    »Rose.«
    »Mmm?«
    So müsste man sich als Mutter fühlen, wenn Jimmy mein Kind wäre und ich versuchte, das Essen auf den Tisch zu bringen, während er sich ständig quengelnd an meine Beine klammerte.
    Er sagt nichts.
    Mein Geschichtsbuch passt nicht ins Fach. Es ist zu groß für das perfekte kleine Bücherregal, das ich aus dem oberen Fach meines Spindes mache. Fast passt es, aber eben nur fast. Ich gebe ihm einen Stoß. Geh endlich rein, Buch, du Buch der Kriege mitdeinem Ersten Weltkrieg und deinem Zweiten Weltkrieg und deinem Koreakrieg und deinem Vietnamkrieg und deinem Golfkrieg und all deinen Kriegen, einem nach dem anderen.
    Was ist bloß los mit diesen Menschen, diesen Menschen, die einfach nicht aufhören können zu kämpfen, die nicht aufhören können, einander wehzutun, nicht lange genug, um sehen zu können, wie schön so ein Körper ist, ein in sich geschlossenes Wunder aus Flüssen und Meeren und Inseln und Kontinenten? Dass das Hirn in zwei Hälften geteilt ist – zwei perfekte symmetrische Hälften, jede mit ihrem eigenen System aus Wasserwegen. Diesen Kriegsmenschen sollte man mal eine Röntgenaufnahme einer intraparenchymalen Hämorrhagie zeigen, einer Blutung im Gehirn eines achtzehnjährigen Mädchens, eines Mädchens namens Ivy.
    Seht euch das an, ihr Kriegsmenschen. Seht mal, genau das ist der Grund, weswegen ihr einander nicht verletzen sollt. Ohne dass ihr auch nur irgendetwas dazu beitragt, kann das eurem Körper passieren, eurem schönen Körper, und eurem Gehirn, eurem schönen symmetrischen Gehirn, und eurem Herzen und eurer Seele.
    Ein hellblauer Lastwagen kann auf euch zuschlittern, ohne dass ihr das wollt, dabei gibt es in der Welt doch weiß Gott schon genug Schmerz, oder? Reicht das nicht? Die Flüsse in mir steigen wieder an, treten über die Ufer. Es ist zu viel, was da in mir ist, zu viel, um es zusammenzuhalten. Rein mit dir, Buch der Kriege. Geh endlich rein. Und bleib da. Noch ein Stoß.
    Der Rücken bricht.
    »Mist!«
    Ich drehe mich zu Jimmy um.
    »Hast du das gesehen?«, frage ich. »Jetzt hab ich das verfluchte Buch kaputt gemacht.«
    Er schweigt. In seinen Augen derselbe Ausdruck wie gestern, als er auf dem großen flachen Felsblock lag, zu mir aufsah und Rose? sagte. Dann wendet er sich ab.
    Warte, Jimmy , will ich sagen. Aber ich tu's nicht.
    Warte, kleiner Schmetterling in deinem Regenwald im Amazonas. Eben willst du mit deinen Flügeln schlagen. Warte doch, bitte. Zu spät. Der Schmetterling schlägt mit den Flügeln und ahnt nicht, was er da getan hat. Zu spät, kleiner Kerl. Zu spät. Die Folgen sind nicht absehbar. Der Junge hinter dem Steuer jenes hellblauen Trucks ist ein bisschen zu schnell in die Kurve gegangen, und jetzt ist da ein Mädchen, das nichts weiter will, als zu hören, wie die Schwester sagt: Komm schon, Rosie – gehen wir ein Stück , aber das geht nicht. Die Männer in meinen Kriegsbüchern, diese Männer, die über Hiroshima geflogen sind, hatten die irgendeine Ahnung von dem, was passieren würde? Hätten sie sich je vorstellen können, was die Folge sein würde, wenn sie auf jenen Knopf drückten? Und als sie dann wegflogen von dem, was sie angerichtet hatten, von dem, was nun vor ihren Augen geschah, so weit unter ihnen am Boden, haben sie sich dann so gefühlt wie ich jetzt?

2
    Blicke von überall her.
    Rose, deren Schwester bei dem Unfall dabei war. Rose, die mit Jimmy Wilson
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