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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman
Autoren: Alison McGhee
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ich zu lesen, »›sah es in Pompeji aus wie in jeder anderen wohlhabenden, geschäftigen Stadt auch. Menschen gingen durch die Straßen, trieben Handel, tauschten Neuigkeiten aus, unterhielten sich freundlich.‹«
    »Womit handelten sie denn?«, fragt William von seinem blauen Stuhl hinter mir in der Ecke. »Mit Olivenöl in Tontöpfen? Wein in Amphoren, was immer das sein mag – Amphoren?«
    Seine kräftigen Hände spielen mit den Topflappen meiner Mutter, die er auf dem Schoß liegen hat. Er legt sie erst über Kreuz aufeinander, dann stapelt er sie ordentlich.
    »Vielleicht auch Topflappen?«
    Jeden Nachmittag, wenn der Schulbus mich zu Hause abgesetzt hat, kommt William T. und fährt mich her, ins Pflegeheim Rosewood, und nach drei Stunden fährt er mich zurück nach North Sterns. Dann setzt er mich am Seiteneingang unseres Hauses ab, dem einzigen Eingang, den überhaupt jemand benutzt, einschließlich William T., wenn er den Hügel herunterkommt, um nach uns zu sehen. Um sicherzugehen, dass wir genug Holz haben. Dass wir genug Luft in den Autoreifen haben. Dass unsere Heizung nicht in die Luft fliegt oder uns mit Kohlenmonoxid vergiftet. Dass wir einen weiteren Tag überleben.
    Manchmal kommt Crystal mit, seine Freundin. Sie bringt uns Muffins, die sie in ihrem Diner gebacken hat, oder eine Dose mit Thunfischsalat. Einmal hat sie uns einen Erdbeer-Rhabarber-Kuchen mitgebracht, von dem William T. dann die Hälfte gegessen hat.
    Warum William T. sich um uns kümmert? Vor langer Zeit, als mein Vater ausgezogen und nach New Orleans gegangen ist, hatmeine Mutter sich ins Bett gelegt und ist einfach nicht mehr aufgestanden. Wochenlang. Damals fing das an, dass William T. nach uns schaute, und es ist ihm wohl zur Gewohnheit geworden. Seitdem hat er nämlich nicht mehr damit aufgehört. Selbst als sein Sohn vor fünf Jahren gestorben ist, hat er weiter nach uns geschaut. Die schlimmsten Dinge können passieren, und trotzdem geht auf der Welt alles weiter seinen Gang. Ich hasse das.
    »Damals hatten sie noch keine Topflappen, William T.«, sage ich.
    »Wie zum Teufel haben sie dann ihre Töpfe aus dem Ofen genommen?«
    »Macht einen Vierteldollar, William T.«
    Als meine Mutter damals so lange im Bett liegen blieb und William T. anfing, nach uns zu schauen, kannten Ivy und ich ihn eher flüchtig.
    »Mädels«, sagte er, als er das erste Mal in unserer Gegenwart fluchte, »ich bin nun mal ein Mann, der viel flucht, aber ich verspreche, ich zahle jedes Mal einen Vierteldollar, wenn ich es vor euch tue.«
    Verdammt ist allerdings erlaubt. Seiner Meinung nach gilt verdammt nicht als Fluch.
    »Verdammt«, sagt er. »Du hast recht.«
    Vor Wochen hat meine Mutter den alten blauen Topflappenwebrahmen hervorgeholt, den William T. Ivy und mir damals geschenkt hatte, als unsere Mutter nicht aufstehen wollte. Er ist ziemlich rostig. Er lässt sich nicht mehr richtig zusammensetzen. Er ist schief, kein Quadrat mehr, und liegt nicht gerade auf dem Tisch. Sie hat einen Strang Elastikbänder quer rübergespannt, von Stift zu Stift, und dann angefangen, mit einer großen Nadel zu weben.
    Die Hände meiner Mutter sind ständig beschäftigt. Wennihre Hände einmal ruhig sind, kommt irgendein anderer Teil ihres Körpers in Bewegung. Ihr Fuß klopft auf den Boden. Ihre Zähne knirschen leise. Selbst ihre Bauchmuskeln zucken leicht, in ihrem eigenen Rhythmus, wenn der restliche Körper meiner Mutter daran gehindert wird, sich zu bewegen. Man sieht ihre Knochen und die Muskeln unter der Haut. Ihr Körper ist für Bewegung gemacht, er muss sich immer bewegen. Stillstand? Niemals.
    Genau in diesem Moment sitzt sie in unserem Haus in Sterns und macht Topflappen.
    Rauf. Runter. Rauf, runter. Rauf runter. Raufrunterrauf-runterraufrunter.
    Und dabei schaukelt sie die ganze Zeit. Sie sitzt auf ihrem roten Metallstuhl an dem kleinen Kartentisch und schaukelt vor und zurück. Den Kartentisch hat sie ein paar Tage nach dem Unfall aufgestellt. Wenn sie einmal ihren Rhythmus gefunden hat, erhöht sie das Tempo, bis sie so schnell vor und zurück schaukelt, wie es nur geht. Bis ihre Finger fliegen.
    Meine Mutter arbeitet in Utica in der Brauerei, sie richtet dort umgekippte Flaschen wieder auf. Hin und her flitzt sie und stellt umgefallene Flaschen wieder auf, damit sie verpackt werden können. Dass eine umgekippte Flasche unbemerkt an Connie Latham vorbeikommt, kommt selten vor. Wenn du eine Besichtigungstour durch die Brauerei machst, siehst du sie
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