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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman
Autoren: Alison McGhee
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vielleicht, wenn du vom Besuchersteg zur Abfüllanlage hinunterschaust. Die dünne Frau mit den durchsichtigen Latexhandschuhen und den dunkelroten Haaren unterm Netz? Die den rostigen roten Datsun fährt, der ganz hinten auf dem Personalparkplatz steht? Die niemals hochguckt, deren Blick sich niemals mit deinem trifft? Das ist sie. Du kannst zusehen, wie die lange Reihe Flaschen unordentlich bei ihr ankommt und ordentlich weiterzieht.Vielleicht fragst du dich, wie alt sie wohl ist. Ob sie verheiratet ist. Ob sie Kinder hat.
    Dreiundvierzig.
    Nein.
    Zwei Töchter: Rose und Ivy.
    Vielleicht siehst du aber auch hinunter und siehst sie und stellst dir gar keine Fragen über diese Frau, diese Connie Latham, die im Februar vor drei Jahren Mitarbeiterin des Monats wurde, die Frau am Fließband, die da in dem dröhnenden Maschinenlärm steht und umgekippte Flaschen wieder aufrichtet.
    Meine Mutter hat Ivy nicht mehr besucht, seit sie sie vom Krankenhaus hergebracht haben.
    Zu Hause klopft sie mit ihrem Fuß den Rhythmus eines Liedes, das ich nicht hören kann, das nur in ihrem Kopf ist. Was, wenn die Brauerei auf einmal dichtmachen würde? Was sollte meine Mutter dann tun? Meine Mutter braucht Bewegung, sie muss dauernd in Bewegung sein, und sie braucht eine Struktur, einen festen Rhythmus, der diese Bewegung in einem Rahmen hält, so wie strömendes Wasser Ufer braucht, die es daran hindern, überzulaufen und im Boden zu versickern.
    »Jedes Wasser sucht sich seine eigene Fallhöhe«, hat Mr. Carmichael letztes Jahr im Naturkundeunterricht gesagt. Da stand er an der Weltkarte und fuhr mit dem Stock blaue Linien nach, die sich ihren Weg durch riesige grüne Flächen bahnten. »Seht sie euch an: den Tigris, den Euphrat, den Mississippi, den Amazonas, den Jangtse. Die längsten Flüsse der Welt. Und jeder von ihnen findet seinen Weg zum Meer.«
    William T. lässt einen der Topflappen meiner Mutter an der kleinen Schlaufe in der Luft schaukeln.
    »Wie zum Teufel willst du wissen, dass sie zu Zeiten des Vesuvs nicht Handel mit Topflappen trieben, Kleine?«
    Kleine und Große waren die Namen, die William T. Ivy und mir verpasst hatte, damals, als meine Mutter im Bett liegen blieb.
    »Stell dir vor, was für ein Vermögen ich verdienen könnte, wenn ich damals schon gelebt hätte«, sagt er. »Ich hätte einen Topflappenstand auf dem Markt gehabt. Den König der Topflappen hätte man mich genannt, wie immer das auf Altgriechisch heißen mag.«
    »Latein«, sage ich. »Pompeji war Teil des Römischen Reiches.«
    William T. schüttelt den Kopf.
    »Genau deshalb, Kleine«, sagt er, »bist du ja Stammgast auf der Ehrenliste der besten Schüler und ich nur ein kleiner Topflappenkönig.«
    »›Drei Tage nach dem Ausbruch des Vulkans war alles Leben erloschen, von Pompeji war nichts mehr übrig. Über eintausendfünfhundert Jahre lang sah man keine Spur mehr von Pompeji; erst jetzt, über neunzehnhundert Jahre später, erfahren wir mehr über die letzten Tage der Stadt. In den ersten acht Stunden des Ausbruchs des Vesuvs fielen knapp drei Meter Staub, Asche, Glut und kleine Steine auf Pompeji. Anschließend ergoss sich ein kochender Strom aus Dampf und Schlamm über eine Seite des Vesuvs und bedeckte die Stadt Herculaneum.‹ Und was sehen wir heute von Pompeji?«, sage ich zu Ivy. »Ruinen, nichts als Ruinen.«
    Vor dem Unfall, als ich noch Pläne für mein Forschungsprojekt machte, hatte ich vor, eine Geschichte über eine ganz gewöhnliche Familie aus Pompeji am letzten Tag ihres Lebens zu schreiben.
    Ich hatte mir eine Frau vorgestellt, wie sie vor ihrem Lehmbackofen steht, in dem ihr Brot backt. In einem Binsenkorb in einer Ecke schläft ein Baby. Sonnenlicht strömt durch einenschmalen Fensterschlitz in einer dicken Lehmwand. Die Frau wirft einen kurzen Blick auf ihr Kind: Es schläft, gut. So kann sie sich einen Moment hinsetzen und die Augen schließen. Sie hat Zeit.
    »Verdammt«, sagt William T. Die Schlaufe zum Aufhängen hat sich gelöst, und der Topflappen ribbelt sich auf.
    »Du mieser kleiner Teufel, du«, sagt er. »Willst du wohl zusammenbleiben?«
    Immer mehr Schlingen lösen sich. Der Topflappen will zu seiner ursprünglichen Form zurückkehren: will wieder zu ungedehnten, ungewundenen, ruhig daliegenden Bändern werden.
    »Topflappen, ich befehle dir: Bleib zusammen«, sagt William T. »Sieh dir das an, Kleine. Dieser Topflappen ist dabei, Harakiri zu begehen.«
    Grinsend schaut William T. von dem Topflappen auf.
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