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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman
Autoren: Alison McGhee
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Reifens in die Mitte des nächsten springen. Du darfst nicht langsamer werden, nicht stehen bleiben. Wenn ich auch nur eine Spur von Müdigkeit in deinem Gesicht entdecke, gibt's Punktabzug.«
    Aber Ivy wollte nicht mitspielen.
    »Du bist echt seltsam«, hat sie gesagt.
    Also habe ich meinen Hindernislauf allein gemacht. Ivy hat dabeigestanden und mich ausgelacht.
    »Oh, oh«, hat sie gesagt, »sollte sich da etwa eine Spur von Müdigkeit in dein Gesicht geschlichen haben? Allerdings. Einen Punkt Abzug.«
    Ivy hatte keine Lust auf Opfer und Verzicht. Sie hielt absolut nichts davon.
    »Das Leben ist kurz, kleine Schwester«, sagte sie oft. »Nutze es.«
    Manchmal hat mich mitten in der Nacht ein Geräusch wie Hagel geweckt. Dann stand Joe Miller, Ivys Freund, im Dunkeln vorm Haus und schmiss Steinchen an Ivys Fenster. Dann ist Ivy zu ihm gegangen und in seinen Truck gehüpft, der ohne Licht im Leerlauf am Straßenrand stand.
    Joe Miller war nicht gerade gern gesehen an der Sterns High. Als er letztes Jahr seinen Abschluss gemacht hat, atmeten seine Lehrer auf. Inzwischen arbeitet er wie alle anderen Millers bei Gray, einer großen Kfz-Werkstatt in Remsen. Nach Feierabend kam er den Jones Hill heruntergedüst, dass der Kies unter seinen Reifen davonspritzte, bei laufendem Motor schwang er sich vomFahrersitz und stürmte die Stufen hoch zur Küchentür, klopfte zweimal. »Hey, Mrs. Latham. Hey, Rose. Was ist der Verzicht des Tages?«
    Wie meine Mutter ist auch Joe Miller noch kein einziges Mal bei Ivy gewesen, seit sie vom Krankenhaus ins Pflegeheim gebracht wurde.
    Zwischen Ivy und Joe gab es etwas, das sich beinahe mit Händen greifen ließ. Etwas in Joe Millers Körper und etwas in Ivys Körper zog die zwei zueinander. Vielleicht kannten sie einander aus einem früheren Leben. Vielleicht waren sie zusammen eine staubige Straße entlanggelaufen, eine staubige Wüstenstraße, und hatten einander an den Händen gehalten, und als sie rasteten, hat dieser Joe-in-einem-früheren-Leben vielleicht Ivys Fuß zwischen seine Hände genommen und die Müdigkeit aus ihren Muskeln massiert, während beide leise miteinander redeten. Möglich. »Alles ist möglich«, hat Angel gesagt. »Alles außer Offshore-Wasserfledermäusen«, hat William T. gesagt.
    Jetzt kann ich Ivy hören.
    Was genau würdest du aufgeben, um mich zurückzubekommen, Fräulein Verzicht? Konkret bitte.
    Gibt es irgendetwas, was ich nicht aufgeben würde?
    Ivy saß hinterm Steuer, ich auf dem Beifahrersitz. Wir sind um die Kurve gekommen. Haben den Truck gesehen. Den hellblauen Truck des Jungen. Ivy ist voll auf die Bremse getreten, aber der Wagen ist einfach in uns hineingeschlittert. Das war mein Moment, mein Moment, in dem die Zeit sich hinunterbeugte, mich hochhob, um mich wieder abzusetzen an diesem Ort, den ich mir nie vorgestellt hätte.
    »Deine Schwester kann dich nicht hören«, hat der Arzt gesagt. »Sie hat keinen vestibulo-okularen Reflex.«
    Aber es gibt in dieser Welt ja wohl mehr als das, was Augen sehen können, oder? Derselbe Arzt könnte vielleicht zu einem Mann, dem ein Bein fehlt, sagen: »Ihr Bein kann Ihnen nicht wehtun, es ist nicht mehr da.« Und ob es das kann. Hat er denn nie von Phantomschmerz gehört, dieser Doktor Neunmalklug? Der glaubt, er weiß alles, obwohl er sich täuscht?
    Würdest du auf Zucker verzichten, um mich zurückzubekommen, Rosie? Zucker liebst du doch so.
    Natürlich würde ich auf Zucker verzichten, Ivy.
    Locker. Keine Schokoriegel, keine Drops, keine Haferkekse mit Karamellfüllung, keine Vanillecremetorte, kein Möhrenkuchen mit Frischkäseglasur. Auch keine Schokolade. Kein Ahornsirup, kein Honig. Nicht einmal Hustenbonbons. Auf Wiedersehen, Zucker. Auf Nimmerwiedersehen. Ein Opfer, klar – aber wäre das genug?
    Nein. So einfach kriegst du mich nicht zurück. Was noch?
    Radfahren. Ich würde für dich aufs Radfahren verzichten, Ivy.
    Nie mehr den Jones Hill hinunterflitzen. Nie mehr spüren, wie der Wind meine Haare nach hinten bläst, nie mehr nach Sonnenuntergang kreuz und quer die Route 274 entlangradeln, allein mit den Sternen am dunklen Nachthimmel, nie mehr das Surren der Reifen auf dem Pflaster, nie mehr der Blick zurück, um zu sehen, ob das Küchenlicht noch brennt, bevor ich weiter die Straße hinaufstrample, wo die Luft kühler ist und der Mond heller scheint. Adieu, Radfahren.
    Ein Opfer, aber nicht groß genug. Mehr bin ich dir nicht wert? Komm schon, was noch?
    Autofahren. Ich würde nicht mehr
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