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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman
Autoren: Alison McGhee
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Kopf, und sonst kann ich nichts von ihm sehen, immer nur diesen Kopf.
    Dann steht Warren auf. Man soll nicht aufstehen, solange der Bus fährt, man soll hinter der Linie bleiben, solange der Bus fährt, man soll nicht durch den Mittelgang laufen, bis ganz nach hinten, dahin, wo ich allein sitze, von wo ich nicht wegkann, man soll sich auch nicht auf den Platz neben mir setzen, auf die Bank mit dem grünen Kunststoffpolster, so nah, dass das fremde Bein meins berührt, sich fest gegen meinen Oberschenkel drückt, und man soll mich auch nicht so anstarren, wie Warren mich jetzt anstarrt.
    Ohne zu blinzeln.
    Ich fühle seinen Blick. Ich fühle die Blicke der anderen. Starr sitzen sie auf ihren Plätzen, manche stecken die Köpfe zusammen, manche bewegen die Lippen, flüstern miteinander, über IvyLatham reden sie. Ivy, die nicht mal in einem Rollstuhl sitzen könnte, Ivy, die nicht atmen kann, die nur noch dahinvegetiert , als lebende Leiche . Ich strenge meine Ohren an, damit ich genau weiß, wer was sagt, damit ich mich an Warren mit seinem starren Blick vorbeidrängen kann, um klarzustellen, wie das mit meiner Schwester ist.
    Aber die reden gar nicht über Ivy. Sie reden über mich, Rose Latham, über Rose und Jimmy reden sie. Hat jemand davon gewusst? Wer hätte das denn gedacht – ich meine, Rose? Rose Latham?
    »Stimmt doch, Wilson, oder?«, ruft Warren nach vorn, als hätte er vorher etwas zu Jimmy gesagt. Hat er aber nicht.
    Jimmy Wilson, ganz vorn im Bus, dreht sich nicht um.
    »Stimmt doch, ODER?«
    Ich konzentriere mich ganz auf Warren neben mir. Ich spüre, was er denkt. Er denkt, er hat das Recht dazu – das Recht, mich so lange anzustarren, wie er will, seinen Oberschenkel gegen meinen zu drücken, so fest, fest, fest er will, ohne dass ich protestiere. Er denkt, er hat was gegen mich in der Hand und dass ich mich deshalb nicht traue, was zu sagen. Er denkt, ich schäme mich.
    Falsch gedacht.
    Falsch gedacht von ihm und von allen, die sich in den Gängen unserer Schule und im Bus das Maul zerreißen. Sie glauben, sie wissen, was da war zwischen Jimmy und mir, oben am Fluss, aber sie wissen gar nichts. Sie wissen nicht, dass die Welt manchmal eine Zeit lang stillstehen müsste, es aber nicht tut. Jimmy Wilsons Körper auf meinem tat weh, es tat wirklich weh, aber es war ein anderer Schmerz als der, der davon kommt, dass Ivy in diesem Bett liegt und einfach nicht wach wird.
    »Stimmt's, Wilson? Rose geht heute Abend mit mir zum Fluss zum Steineflippen.«
    Jimmys Kopf rührt sich nicht.
    »Klar«, sage ich. »Wird bestimmt 'n großer Spaß.«
    Einen kurzen Moment lang sieht Warren verdutzt aus. Dann fasst er sich wieder.
    »Okay, Rosie. Bis später dann.«
    Rosie . Darauf war ich nicht vorbereitet. Dagegen bin ich wehrlos. Außer meiner Schwester, Ivy, nannte mich niemand Rosie.
    »Um wie viel Uhr, Rosie?«
    Ich stehe auf und zwänge mich an ihm vorbei, vorbei an seinen Beinen, die mir den Weg versperren. Gehe durch den Mittelgang. Ich kann nichts sehen. Rein gar nichts. Hinter mir höre ich Warren sagen: »Was denn? Was? Was hab ich denn gesagt, Rosie?« Nenn mich nicht Rosie. Ich versuche, mein Gleichgewicht zu halten, taste mich vorwärts von Sitz zu Sitz. Den ganzen Gang gehe ich entlang, bis ich bei Katie ankomme, wo es nicht weitergeht, also setze ich mich, vor die weiße Linie, hinter der man warten muss, solange der Bus noch nicht steht. Neben Katie setze ich mich auf den Boden, stütze die Beine auf den Stufen ab, die nach draußen führen.
    »He«, sagt Katie, »da kannst du nicht sitzen. Zurück nach hinten mit dir, verdammt noch mal, setz dich auf deinen Hintern.«
    Ich kann nichts sehen. Rein gar nichts.
    »SOFORT!«
    Also geh ich zurück. Hinter die Linie, während der Bus fährt. Ein leerer Sitz. Ich lasse mich fallen. Nein, das ist ja Jimmy Wilsons Reihe. Zu spät. Jimmy sieht mich nicht an. Guckt weiter starr geradeaus. Hinter uns Warren.
    »Was denn? Was? Was habe ich denn gesagt? Lieber Himmel!«
    Und dann halten wir an unserem Haus, dann rattert Katie davon, und eine müde blaue Wolke quillt aus dem Auspuff. Dann bin ich in meinem Haus, in unserem Haus, in dem meine Schwester nicht ist. Es ist wieder so weit, stimmt's, Rosie? Komm schon, gehen wir ein Stück.

4
    »Alle Millers müssen da durch, durch diese Verrücktheiten«, sagt William T., als ich ihm von der Sache mit Tom und meinem Spind erzähle. »Die sind für die Schule nicht geschaffen. Schon im Kindergarten zeigt sich das.
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