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Schönbuchrauschen

Schönbuchrauschen

Titel: Schönbuchrauschen
Autoren: Dietrich Weichold
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    Er wusste, wo der Schlüssel lag. Das ließ ihm keine Ruhe. Es war schon gegen elf, als er hundemüde vom letzten Einsatz nach Hause kam. Er hängte seine Sanitäterjacke an den Haken, streifte die Schuhe ab und nahm eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Er setzte den Flaschenöffner an, dann verharrte er und schaute versonnen vor sich hin. Dann stellte er das Bier wieder zurück. Nein, heute lieber keinen Alkohol, sondern Kaffee. Er machte auf seinem Gaskocher Wasser heiß und goss sich einen großen Becher Pulverkaffee auf. Dann lehnte er sich auf dem Sofa zurück, legte die Füße auf den Tisch und pustete mit geschlossenen Augen über die Tasse. Mehrmals nippte er hastig an dem heißen Getränk und spürte, wie sich wohlige Wärme in seinem Körper ausbreitete, vom Rücken abwärts über die Oberschenkel, die Knie, bis in die Füße hinein. Nach einer Weile schlug er die Augen auf und setzte sich aufrecht hin. Er schaute sich um, als wäre er gerade in einem fremden Zimmer aufgewacht, und seine Behausung kam ihm erbärmlich vor. Das abgewetzte Sofa mit der undefinierbaren Farbe, das er sich vom Sperrmüll geholt hatte, die alten Stühle noch aus Großmutters Zeiten, dazu der billige Tisch, das ganze Gerümpel, dem man auf den ersten Blick ansah, wie mühsam er es zusammengetragen hatte. Manchmal schaffte er es, sich seine Wohnung schönzureden, wie überhaupt sein Leben. Aber wenn er so erschöpft war wie jetzt und die Bilder der Unfallopfer nicht loswurde, sah er alles nur noch grau in grau.
    Plötzlich setzte er mit einer energischen Bewegung den Kaffeepott ab, so dass etwas über den Rand schwappte, und stand auf. Er bereitete sich ein Abendessen zu aus Schwarzbrot, Fleischwurst und billigem Streichkäse, das er hastig verzehrte. Er machte große Bisse und spülte sie mit dem restlichen Kaffee und einem Glas Leitungswasser hinunter. Seine Gedanken waren nicht bei seiner Mahlzeit, und er war überrascht, als plötzlich nichts mehr auf dem Teller war. Er stand auf und ging zwei Schritte in Richtung Kühlschrank. Dann zögerte er. Er legte die rechte Hand auf den Magen und schaute auf die Armbanduhr: halb zwölf. Er holte den Wecker und stellte ihn auf ein Uhr. So lange wollte er noch warten. In voller Montur machte er sich auf dem Sofa lang und löschte das Licht.
    Er schloss die Augen, legte die Hände über der Brust zusammen und versuchte, langsam, tief und gleichmäßig zu atmen. Jetzt wollte er nur an seine Atemzüge denken, nur durchatmen und entspannen, vielleicht sogar ein wenig wegdämmern. Aber dann hätte er den Kaffee nicht trinken dürfen. Sein Puls war zu schnell. Über neunzig Schläge in der Minute. Er begann, seine Atemzüge zu zählen, wie er es oft tat, wenn er nach einem Einsatz nicht einschlafen konnte, weil er die Bilder nicht loswurde. Anfangs hatte er gedacht, dass er mit der Zeit nicht mehr so viel mit heimnehmen würde, wie man bei ihnen sagte, aber da hatte er sich getäuscht. Von einem schlimmen Verkehrsunfall nahm er immer etwas mit heim, das ihn bis in den Schlaf und oft auch darüber hinaus verfolgen konnte. Und der Griff zur Flasche, den er sich heute nicht erlaubte, verwischte die Bilder allenfalls etwas, konnte sie aber nicht ganz auslöschen.
    Heute war er noch nicht einmal aus dem Rettungswagen gestiegen, da wusste er schon, wer das Unfallopfer war. Er kannte die Autonummer: BB-FL 1976. Kein Zweifel, es war der GTI von Flipp.
    Flipp war zu schnell gefahren. Er musste die Rotenwaldstraße in den Stuttgarter Westen wild hinuntergerast sein. Allem Anschein nach war sein Golf am Scheitelpunkt der letzten scharfen Linkskurve nach rechts ausgebrochen, worauf er zu stark gegenlenkte und auf der linken Spur schräg unter einen Lastwagen fuhr. Der Aufprall war so heftig gewesen, dass auch die Airbags ihn nicht hatten schützen können. Die Masse des Lkws hatte die Karosserie wie eine Nussschale geknackt, und Flipps Oberkörper war wie ein Käfer zerquetscht worden. Er gab ihm eigentlich keine Chance mehr. Seinen Beifahrer, ohnmächtig und schwer verletzt, hatten sie ebenfalls in die Notaufnahme des Marienhospitals gebracht. Wenn einer von beiden durchkommen würde, dann er.
    Ob er nun die Augen öffnete oder schloss, immer sah er das völlig demolierte Auto mit den blutüberströmten Unfallopfern vor sich. Die Bilder quälten ihn.
    Als der Wecker klingelte, fuhr er hoch. Obwohl es ihm war, als hätte er sich die letzte Stunde nur von einer Seite auf die andere gewälzt, musste er
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