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Schönbuchrauschen

Schönbuchrauschen

Titel: Schönbuchrauschen
Autoren: Dietrich Weichold
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warmes Licht. Man hätte meinen können, es wäre noch Oktober. Hier in aller Gemütsruhe sein Vesperbrot mit einem Bier hinunterzuspülen, war ein verlockender Gedanke.
    Als OW sein Fahrrad hinter sich ließ und auf den Sitzplatz zuging, konnte er den Mann zunächst nur von den Schultern aufwärts sehen. Er hatte den Kopf zur Seite geneigt und schien zu schlafen. OW blieb stehen. Vielleicht sollte er ihn schlafen lassen, war sein erster Gedanke. Aber wenn er gar nicht schlief? Er trat zögernd näher. Eine dicke Fliege krabbelte dem Mann über die Lippen, ohne dass er auch nur zuckte. Er schlief nicht. Er war tot.
    Der Appetit war OW schlagartig vergangen. Er stand mit der Vespertüte und der Bierdose in der Hand unbeholfen mitten unter diesem Dach und konnte die Augen nicht von dem Toten abwenden. Es war ein junger Mann zwischen dreißig und vierzig. Er trug leichte Wanderstiefel und Jeans, dazu einen teuren Markenanorak in grün. Er hatte braunes, leicht gewelltes Haar, das von seinem Mittelscheitel fast bis auf die Schultern herunterfiel. Sein schmales Gesicht war glatt rasiert. Er hatte die Augen geschlossen und den Kopf zur Seite geneigt. Seine Hände ruhten leicht nach oben geöffnet auf der Bank.
    Eigentlich saß er ganz friedlich da, aber er war tot. OW wurde es unheimlich. Er sah sich um. Weit und breit war niemand zu sehen. Er trat an den jungen Mann heran und befühlte seinen Hals. Er war starr und kalt.
    »So eine Scheiße«, entfuhr es OW. Dann zog er sein Handy aus der Tasche und wählte Siggi Kupfers Nummer. Aber er war im Funkloch und bekam kein Netz.
    Was sollte er tun? Sollte er jetzt weglaufen und den Toten allein lassen? Oder lieber warten, bis vielleicht ein Waldarbeiter oder ein Förster vorbeikommen würde? Das könnte lange dauern und wäre sehr ungemütlich. Die paar Meter zu seinem Fahrrad zurück rannte er. Er warf seine Bierdose und das Vesperbrot in den Einkaufskorb, stieg auf, trat wie wild in die Pedale und fuhr ein kleines Stück talabwärts bis dahin, wo sich das Gelände etwas weiter öffnete. Dort stieg er keuchend ab und drückte auf Wahlwiederholung. Aber auch hier bekam er keine Verbindung.
    Immer noch keuchend, stieg OW auf und fuhr zurück zu dem Toten. Er stieg vom Rad und blieb unentschlossen stehen. Die Situation war ihm zu kompliziert. Einfach warten kam nicht in Frage, das hätte er nicht ausgehalten. Aber wenn er jetzt weiter wegginge, um eine Stelle zu suchen, von wo aus er telefonieren konnte, dann müsste ja ein anderer, der gerade dann zufällig vorbeikäme, auch wieder losziehen, um einen Netzanschluss zu suchen. Die Polizei würde dann vielleicht sogar zweimal kommen, ehe er selbst zurück wäre. Eine umständliche Fragerei ergäbe das, die ihm unangenehm wäre. Er stand da und überlegte, und kühl wurde ihm auch noch. Sapperlot! Er ärgerte sich über seine Unentschlossenheit. Aber dann hatte er die Lösung. Ein Zettel! Ein Zettel würde die Lage klären. Er hatte ja immer etwas zum Schreiben dabei.
    »12:55 Uhr. Habe den Toten bereits so gefunden, wie er dasitzt. Wir sind hier im Funkloch. Habe mich entfernt, um Netzanschluss zu bekommen. Die Polizei wird also bereits benachrichtigt
.
    Otto Wolf (aus Herrenberg)«
    Er legte den Zettel neben den Toten, beschwerte ihn mit einem Stein und wollte sich auf den Weg machen.
    Aber seine Hin- und Herfahrerei hatte ihm den Elan genommen. Die Strecke nach Bebenhausen erschien ihm auf einmal viel zu lang. Der kürzeste Weg aus dem Wald war der nach Breitenholz, das war ihm klar, nur war das auch mit Abstand der steilste. Aber an dieser Steigung führte kein Weg vorbei. OW fasste sich ein Herz und ging die siebzig Höhenmeter an. Auf dem ersten halben Kilometer, solange die Straße fast parallel zum Bach verlief, nahm OW den leichten Anstieg mit viel Schwung. Aber dann führte eine lange Rechtskurve in den Wald hinein, und das Sträßchen wurde immer steiler. Er stieg ab und schob, bis er eine etwas flachere Gerade vor sich sah. Dann trat er wieder in die Pedale und versuchte, Schwung zu holen, als er den nächsten steilen Buckel vor sich sah. Aber es nützte nichts. Nach fünfzig Metern hing ihm fast die Zunge heraus und er verlegte sich aufs Schieben. Bis er auf die Uhr sah. Erschrocken stellte er fest, dass er schon zwölf Minuten unterwegs war. Dafür war er noch nicht weit genug gekommen. Also strampelte er sich auf dem kurvenreichen steilen Schottersträßchen, das er in früheren Zeiten locker hochgefahren war, bis
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