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Das Paradies am Fluss

Das Paradies am Fluss

Titel: Das Paradies am Fluss
Autoren: Marcia Willett
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Prolog
    Sommer
    Reisen … Schon immer ist sie gern gereist. Sie steigt in den Zug, drängt sich an anderen Fahrgästen vorbei, sucht mit der Reservierung in der Hand nach ihrem Platz und verstaut ihren kleinen Koffer in der Gepäckablage. Das Paar mittleren Alters, das ihr gegenübersitzt, lächelt ihr zu, als sie sich an den beiden vorbei zum Fensterplatz schiebt. Sie erwidert das Lächeln, hofft aber, dass sie nicht mit ihr reden wollen – jedenfalls noch nicht gleich. Zuerst muss sie ein Gefühl für die Reise bekommen, auf den plötzlichen Ruck warten, mit dem der Zug sich in Bewegung setzt, und erleben, wie der Bahnhof und die ganze Stadt an ihr vorbeiziehen und zurückbleiben.
    Während Jess zu den Menschen auf dem Bahnsteig hinaussieht, erinnert sie sich daran, wie sie als kleines Mädchen in ihrem Kindersitz auf der Rückbank des Wagens ans Meer gefahren ist oder wie sie, Jahre später, wenn sie vom Internat beurlaubt war oder Ferien hatte, abgeholt wurde und auf dem Beifahrersitz sitzen durfte. Für gewöhnlich fuhr Mum, weil Daddy mit seinem Regiment fort war. Diese kindliche Aufregung über die Aussicht auf eine Reise ist heute noch genauso frisch.
    Vor dem Fenster verabschiedet sich ein Mädchen in den frühen Teenagerjahren von den Eltern. Das kleine, hübsche Gesicht zeigt eine Mischung aus Aufregung und Verletzlichkeit. Sie schützt eine Tapferkeit vor, von der sie selbst nicht ganz überzeugt ist. Ja, sagt sie ihnen, sie hat ihre Fahrkarte; ja, sie hat ihr Handy. Erneut setzt sie eine übertriebene Miene auf, die ergebene Geduld ausdrückt, aber ihre Eltern keinen Augenblick hinters Licht führt. Ihr Vater beugt sich zu ihr hinunter, um sie zu umarmen, und Jess sieht die Liebe und Besorgnis auf seinem Gesicht. Mit einem Mal erfüllt sie ein vertrautes Gefühl von tiefer Trauer.
    Acht Jahre ist es jetzt her, seit ihr eigener Vater bei einem Einsatz in Bosnien gefallen ist, doch sie hat seinen Verlust nie verwunden. Immer noch vermisst sie diese besondere Art von Liebe und Sorge, die für ihre vom Glück begünstigten Freunde ein selbstverständlicher Teil des Lebens ist. Jess fehlen der Humor ihres Vaters, seine Gradlinigkeit, die tief empfundene Gewissheit, dass er auf ihrer Seite steht.
    »Deine Mum ist so eine starke Frau«, sagten andere zu ihr. »So tapfer.« Und ja, Mum ist sowohl stark als auch tapfer. Aber als sie ein Jahr später ihren Liebhaber, einen Diplomaten, heiratete und nach Brüssel übersiedelte, wusste Jess, dass der erste Teil ihres Lebens abgeschlossen war. Ihre Kindheit war vorüber. Dann begannen die Jahre, in denen sie regelmäßig den Eurostar nach Brüssel nahm und ihre Ferien in der schicken Wohnung in der Nähe der EU-Gebäude verbrachte. Bis heute fühlt sie sich dort nicht einmal entfernt zu Hause. Ihre Mutter betätigt sich als Gastgeberin und beschäftigt sich mit internationaler Politik und neuen Freunden, einer völlig anderen Welt als die der Dienstwohnungen für verheiratete Offiziere bei der Armee.
    Nach und nach hat Jess gelernt, dass sie ihren eigenen Weg gehen muss. Sie hat sich in der Schule angestrengt, um einen Studienplatz an der Universität Bristol zu bekommen und Botanik zu studieren, und neue Freundschaften geschlossen. Aber das sichere Fundament durch die Liebe ihres Vaters hat ihr gefehlt, das Gefühl, unterstützt zu werden, eine Familie zu haben.
    Jetzt ist sie älter und begreift, dass heutzutage ein Teil ihrer Freude am Reisen darin besteht, dass sie auf diese Weise Entscheidungen aufschieben und sich frei von Zukunftsängsten fühlen kann. Während dieser Zeit kann sie das Leben auf Eis legen und nur im Augenblick existieren.
    Endlich verlässt der Zug den Bahnhof Temple Meads und legt an Tempo zu, und Jess hält den Atem an. Ihre Vorfreude kehrt zurück. Sie hat das Gefühl, die bisher wichtigste Reise ihres Lebens anzutreten; sie verlässt die Universität und fährt nach London, einer noch unbekannten Zukunft entgegen.
    Das Paar gegenüber packt schon Essen aus, Schachteln und Päckchen und Tupperdosen, als hätten die beiden Angst, zwischen Bristol und London zu verhungern. Jetzt, bei genauerem Hinsehen, erkennt Jess die Ähnlichkeit zwischen ihnen: Mit ihren dicken Wangen und den rundlichen, stämmigen Körpern erinnern die zwei sie an Tweedledee und Tweedledum, die Zwillinge aus Alice im Wunderland . Sie breiten ihr üppiges Mahl zwischen sich auf dem Tisch aus, und die Frau wirft Jess einen fragenden Blick zu, als überlegte sie, ihr
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