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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman
Autoren: Alison McGhee
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Oberschenkel.
    »Wilson!«
    »Ich bin ja da«, sagt Jimmy.
    Unter meiner Jacke, hinter meinem Rucksack, streicheln meine Finger immer weiter. Das hier ist anders. Hier hat sich etwas wirklich verändert. Ich starre zum Fenster hinaus. Jimmys Haus kommt in Sicht.
    »Man sieht sich«, sagt Warren. »Armer Irrer.«
    Und damit ist Jimmy weg.
    Und ich sitze weiter im Bus, die Arme fest um die Knie geschlungen, halte von außen mein Inneres zusammen, Muskeln und Knochen und Blut, alles. Ich bin stehendes Wasser. Ich bin Wasser, das ein Fluss sein möchte, aber ein See ist. Ich bin Wasser, das im Käfig meines Körpers gefangen ist. Wasser, das hinauswill. Lasst mich raus. Lasst mich frei.
    Ivy und ich hatten einen Unfall. Es dämmerte schon in denAdirondacks, und wir kamen um eine Kurve. Das war mein Moment, mein Moment, in dem die Zeit sich hinunterbeugte, mich hochhob, um mich wieder abzusetzen an diesem Ort, den ich mir nie vorgestellt hätte.
    Manchmal ist jede Minute eine neue Anstrengung, nicht zu schreien. Nicht zu schreien und zu schreien und zu schreien.
    Meine Schwester hat immer gewusst, wann mir danach zumute war. Meine Schwester wusste, dass ich alles Laute hasste, Lärm, Geräusche, die ein Angriff auf meine Ohren waren. Sie wusste, dass ich die Schulglocke hasste, dieses scheppernde Geräusch, das die Flure und Foyers durchschnitt. Wieso nennt man so etwas eine Glocke? Glocken läuten. Glocken klingen. Glocken sind all das, was dieses Geräusch nicht ist.
    »Was ist mit dir, Rose?«, hat Ivy letzten Sommer irgendwann gesagt. »Du bist doch nicht so ein zartes Pflänzchen.«
    Wir waren gerade draußen, und ich hielt mir mit beiden Händen die Ohren zu und kauerte am Boden: Kampfflugzeuge hoben vom nahen Luftwaffenstützpunkt ab und schossen pfeilgleich in die Luft, schraubten sich hinter den Ausläufern des Gebirges mit Überschallgeschwindigkeit in die Höhe.
    »Die müssen ihre Übungsflüge machen, Rose«, sagte Ivy. »Sie müssen trainieren, in Formation zu fliegen. Sie müssen vorbereitet sein.«
    »VORBEREITET? AUF WAS?«
    Meine Ohren waren taub. Ich konnte mich nur noch brüllend verständigen.
    »Krieg, Schäfchen. Die Verteidigung unserer Heimat gegen fremde Mächte, die sie überrollen wollen.«
    Der Lärm ließ nach. Mikroskopisch kleine Flugzeuge schossen immer höher in die Luft, bis nur noch Punkte zu erkennen waren, die Kreidestriche hinter sich herzogen. Die Kreidestrichelösten sich auf, verwandelten sich in Watteflusen, hoch am blauen, blauen Himmel.
    »Gewöhn dich dran«, sagte Ivy. »Krieg ist nun mal laut, Rosie.«
    Meine Schwester Ivy war der einzige Mensch auf der Welt, der mich Rosie nannte. Meine Schwester war auch die Einzige, die wusste, wie es mir ging mit Kriegen und Kampfflugzeugen und dem Lärm, den sie machten. »Was haben die Leute nur immer mit ihrem Krieg?«, habe ich Ivy oft gefragt. »Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Korea, Vietnam, Persischer Golf.«
    Krieg, Krieg, überall. Ich schließe die Augen und beame meine Gedanken hinüber zu Ivys Krankenhausbett in Utica: Komm schon, Ivy – wach auf. Wach auf und nenn mich Rosie.
    Wenn meine Schwester wach wäre, in diesem Moment, dann müsste sie nur einen Blick auf mich werfen. Es ist wieder so weit, stimmt's? , würde sie dann sagen.
    Komm schon, Rosie , würde meine Schwester sagen. Gehen wir ein Stück.
    Und dann würden wir unseren Spaziergang machen. Den Hügel hinauf, der zum Haus von William T. führt und zu seiner Scheune, in der er seine Schar flügellahmer Vögel hält, dann links in die Fuller Road, nach Sterns Corners hinüber und dann nach rechts, an Potato Hill Antiques vorbei, erst den Potato Hill selbst und dann den Star Hill hinauf, bergauf und bergab, die ganze Zeit, durch Wälder, wo mir Äste mit ihrem grünen Laub über den Kopf streichen, über tief ausgefahrene Lehmspuren und schließlich zurück zu unserem Haus. Laufen, laufen, laufen, meilenweit, bis die stummen Schreie der Stromstöße in den Flüssen und Meeren meines Körpers schwächer werden und verstummen.Es ist schon spät. Draußen ist es dunkel, meine Hausaufgaben habe ich gemacht, meine Mutter redet.
    »Wer weiß, was die noch alles erfinden, Rose? Kein Mensch weiß, was draußen in der Welt vor sich geht, wer woran arbeitet. Gut möglich, dass sie demnächst Nervenenden verbinden können – wenn bei jemandem das Rückenmark durchtrennt ist, geben sie ihm eine Spritze, und eine oder zwei Stunden später ist er wieder auf den Beinen und
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