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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman
Autoren: Alison McGhee
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die Welt, über der der Vogel schon schwebt, solange er lebt. Und mit einem einzigen Flügelschlag ist der Vogel auf und davon, breitet die Flügel aus, um wieder durch die Welt zu fliegen. Adieu, traurige Fensterbank eines traurigen Zimmers.
    Mein Herz, das so lange schon immer neue Risse bekommen hat, zerbricht. Scherben liegen um mich herum, winzige Stücke blauen Himmels liegen zerbrochen am Boden. Ich stehe auf.
    »Gehen wir«, sage ich zu William T.
    Und William T. steht ebenfalls auf, überrascht, aber wortlos.
    Spät am Abend kommt Tom Miller zu uns nach Hause, geht einfach in die Küche, als ich nicht aufmache, geht ins Wohnzimmer, wo meine Mutter sitzt und an ihren tausend Kranichen arbeitet. Später erzählt er mir, er sei ihrem Finger gefolgt, der stumm zum Heuschober zeigte, wo ich mich verstecke, auf der Flucht vor dem Wasser, das wieder über seine Ufer steigt und in dem ich unterzugehen drohe.
    Schweigen. Ich halte die Augen geschlossen, die Welt dreht sich um mich, und mir wird langsam schwindlig. Stehe ich? Liege ich am Boden? Wo ist das Fenster ohne Glas? Die dunkle Luft des Heuschobers, still und schwer, lastet auf mir und macht das Atmen schwer. Atmen. Atmen. Atmen. Ich schlage die Augen auf. Tom steht vor mir.
    Ich strecke die Hand nach ihm aus.
    »Tom.«
    Wir stehen in der Dunkelheit des Heuschobers, und er legt beide Arme um mich. Ich ziehe meine Arme unter seinen hervor und lege sie ihm um den Hals. Ich berge mein Gesicht an seiner Schulter. Er riecht nach Sonne, nach Heu, nach Schweiß und Seife. Er riecht nach ihm selbst. Wir stehen da und schwanken leicht vor und zurück, in winzigen Bewegungen, ein Pendel, zusammengesetzt aus uns zweien. Zurück. Und vor. Und zurück. Und vor.
    »Komm«, sagt er.
    Er flüstert. »Komm.«
    Er legt mich ins Heu. Wir legen die Arme umeinander. Er küsst mich oben auf den Kopf.
    »Hör auf, dir selbst wehzutun«, sagt er.
    Ich schließe die Augen und sehe mich selbst vor mir, mich am Fluss. Aus der Vogelperspektive sehe ich mich, so als wäre ich ein Vogel, der über mir selbst schwebt, über mir selbst mit Jimmy, mit Warren, mit Todd. Wenn ich mich bewege, denken sie womöglich noch, es gefällt mir. Denken, ich wäre bei ihnen, ein Teil des Geschehens, während ich doch in Wirklichkeit darüberschwebe, zusehe, hoffe: Ist das eine Möglichkeit davonzukommen? Fließendes Wasser zu sein, anstatt in mir selbst eingesperrt zu sein, über die Ufer zu treten? Ich halte ganz still. Neben mir strömt das Wasser eilig vorüber, stürzt über die Felsen, auf dem Weg zu seinem vorübergehenden Rastplatz, dem Hinckley-Stausee.
    »Läufst du herum mit einem Stein in deinem Schuh?«, frage ich Tom flüsternd. »Und dieser Stein ist dein Vater?«
    Er lacht. »So kann man es auch sehen.«
    Weiß das Wasser in der Schlucht von Sterns, wo es hinfließt? Weiß es, dass es schon bald nicht mehr dahinströmen wird, dass es aufhören wird, sich zu bewegen, bald Teil eines riesigen stehenden Gewässers sein wird? Aus dem Weltall gesehen, erscheint der Ozean wie ein gewaltiges stehendes Gewässer. Aus dem es keinen Ausweg gibt.
    »Es tut so weh.«
    Toms Arme legen sich noch fester um mich.
    »Ich will, dass es aufhört«, sage ich.
    »Ich weiß.«
    Wieder schließe ich die Augen, dort im Heuschober. Es ist ein Sommerabend in den Adirondacks, das Heu ist frisch, und um uns herum steigt der Duft von geschnittenem Gras auf. Etwasanderes ist Heu ja auch nicht, solange es noch ganz frisch ist und noch nicht so kratzt wie später, wenn es älter ist. Noch trägt es den Duft des draußen gelebten Lebens in sich, eines Lebens in Sonne, Regen und Wind. Ich liebe den Duft des Heus. Wir wiegen uns im Heu, Tom und ich. Ich spüre ihn dicht bei mir. Wie anders das ist als mit den Jungen am Fluss. Ich spüre ein Flattern im Magen, das langsam durch meinen Körper kriecht, bis in meine Mitte, meine Vertiefung, und ich fühle, wie es warm wird, wie ich weich werde.
    »Tom?«
    Er schüttelt den Kopf, da in der Dunkelheit.
    »Nein«, sagt er. Ich liege da, in seinen Armen, und lausche dem Echo seiner Worte in meinem Kopf.
    »Nein?«
    »Genau«, sagt er. »Wir werden einfach hier liegen.«
    Ich lasse mich zurücksinken und schaue auf in das höhlenartige Dach des Heuschobers über uns. Irgendwo über dem spitzen Blechdach kreisen Fledermäuse, stoßen manchmal herab. Ein Streifenkauz ruft in den Wäldern am Ende der Erdstraße. Ich lausche, ob eine Antwort erfolgt, und nach einer Minute höre ich
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