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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman
Autoren: Alison McGhee
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die ganze Zeit dir klarzumachen. Es ist gar nicht so einfach.«
    In dem Moment höre ich die Stimme meiner Mutter.
    »Ivy?«
    Sie hält eine große Pappschachtel in den Armen. Darin sind ihre Kraniche, Hunderte und Aberhunderte von Kranichen. Da steht sie, am Fußende von Ivys Bett. Das Beatmungsgerät rauscht ganz leise.
    »Connie«, sagt William T. »Connie.«
    Sie sieht zu ihm hinüber mit einem Blick, den ich nicht zu deuten vermag. Man könnte meinen, die Schachtel mit den Kranichen sei schwer, so fest, wie sie sie mit den Armen umschlungen hält. Sie sieht William T. an, und ihr Kopf bewegt sich hin und her. Nein , sagt ihr Kopf. Nein.
    »Connie.«
    William T. steht aus seinem blauen Stuhl auf. Er nimmt meiner Mutter die große Schachtel mit den Kranichen aus den Händen und stellt sie am Boden ab. Dann greift er nach der Haarbürste auf dem Nachttisch, Ivys Haarbürste, und legt sie meiner Mutter in die Hand. Er legt ihre Hand über der Bürste zusammen, so als wäre sie ein kleines Kind und er der Vater, der ihr beibringt, einen Löffel zu halten.
    »So«, sagt er. »Setz dich jetzt erst mal. Kleine, würdest du deiner Mutter Platz machen, bitte?«
    Ich stehe auf, und William T. geleitet meine Mutter zum grünen Stuhl und drückt sie sanft hinunter.
    »So«, sagt er. »Einfach nur bürsten. Bürste ihr die Haare.«
    Er legt seine Hand über die meiner Mutter, führt sie zu Ivys Kopf, und dann bürstet er, dann bürsten sie beide, dann gleitet die Bürste über das Haar meiner Schwester. Zögernd hebt sich die andere Hand meiner Mutter und folgt dem Weg der Bürste. Irgendwann steht Angel da und dreht und wendet Ivys Krankenblatt in den Händen.
    »Angel«, sagt William T., »ich würde Ihnen gern Connie vorstellen.«
    »Freut mich, Sie kennenzulernen, Connie.«
    »Sie ist die Mutter. Die Mutter der Großen und der Kleinen.«
    »Natürlich«, sagt Angel.
    Alle stehen wir da und sehen zu, wie meine Mutter Ivy die Haare bürstet. Eine Hand führt die Bürste durch Ivys Haar, die andere folgt, glättet und glättet. Schon hat meine Mutter in diesen festen Rhythmus hineingefunden. Strähnen fliegen in die Luft, der Bürste entgegen.
    Am Abend des Unfalls stand meine Mutter auf dem Krankenhausflur, umgeben von Ärzten und Schwestern. Sie war der einzelne Baum inmitten bittender Bäume. Sie hielt sich beide Ohren zu, hatte die Augen geschlossen. »Ich kann mein Mädchen nicht verlieren«, sagte sie ein ums andere Mal.
    »Zu spät«, antwortete der junge Arzt. »Ihre Tochter ist bereits tot. Nach jedem vernünftigen Maßstab ist Ihre Tochter bereits von Ihnen gegangen.«
    »Was wissen Sie schon!«, hat meine Mutter gesagt. »Nichtswissen Sie! Keinen verfluchten Schimmer haben Sie von dem, wozu meine Tochter noch in der Lage sein wird oder nicht.«
    Der junge Arzt schüttelte den Kopf. Er war zornig; er verlor die Geduld mit meiner Mutter. Ich sah ihm an, was er dachte: Die Frau ist doch verrückt .
    »Sie! Sie wissen doch gar nichts!«, hat meine Mutter wieder gesagt, und sie fing an, auf ihn einzutrommeln, auf seinen weißen Kittel, seinen Brustkorb. »Keinen – verfluchten – Schimmer haben Sie!«
    Der Arzt drehte sich um, ging den Flur hinunter und verschwand.
    Später hielt William T. meine Mutter im Arm. Er und Crystal und Spooner und Tom hatten uns vom Krankenhaus nach Hause gebracht. Tom und ich standen auf der Veranda, die drei standen in der kühlen Märzluft beim Auto um meine Mutter herum, schlossen die Reihen um sie. William T.s Arme legten sich um meine Mutter, und sie ließ sich hineinsinken, ihr Kopf lag an seiner Schulter, seine Arme umschlossen sie fest. Tom und ich sahen von der Veranda aus zu. Meine Mutter lehnte sich an William T., seine Arme umschlossen sie fest, William T. und Crystal lehnten aneinander, und keiner von diesen dreien rührte sich oder sprach, bis irgendwann die Schultern meiner Mutter zu beben begannen. Da wusste ich, sie weinte.
    »Ist ja gut«, wisperte William T. ihr zu. »Ist ja gut.«
    Meine Mutter hat keine schmalen Schultern, doch ihr Brustkorb ist der schmalste, den man sich denken kann. Wenn man sie zur Seite dreht, ist kaum etwas von ihr zu sehen. Bei Ivy ist das genauso. Wenn die beiden beieinanderstanden, sahen ihre Körper ganz gleich aus. Ivys war etwas kleiner, das schon, aber ihr Knochenbau war exakt der gleiche. Wenn Ivy ging, spürte ich den Gang meiner Mutter in ihren Bewegungen.
    William T.s Hände lösten sich und legten sich auf das Haar meiner Mutter. Sie
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