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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman
Autoren: Alison McGhee
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hören. Er sieht mir gerade in die Augen. Weicht nicht aus.
    »Das weißt du, Kleine, und ich weiß es auch. Aber sie tut ihr Bestes.«
    Nur ist das leider nicht gut genug – ihr Bestes , will ich sagen, aber die Worte wollen einfach nicht heraus. Etwas ist anders geworden in der Welt, als William T. das gesagt hat. Deine Mutter ist nicht normal. Es hat klick gemacht, und irgendetwas ist eingerastet. William T. hat recht, und seine Augen sind traurig und müde.
    »William T., warst du wütend, als dein Sohn gestorben ist?«
    Er weicht nicht aus. »Ich war wütend auf die Welt«, sagt er. »Die ganze Welt hatte mich enttäuscht. Und er selbst auch.«
    Zusammen sitzen wir im Truck, am Rand der Glass Factory Road. Von Zeit zu Zeit donnert ein Auto vorbei. Eine Biene fliegt zum offenen Fenster herein, macht einige Sturzflüge, schwebt kurz vor uns in der Luft und fliegt dann wieder hinaus.
    »Wir laufen alle mit einem Stein im Schuh durchs Leben, Kleine«, sagt William T. »Du. Ich. Crystal. Deine Mutter. Die ganze große Welt.«
    »Ivy hat mich verlassen«, sage ich. »Sie hat mich zurückgelassen.«
    »Das stimmt«, sagt William T. »Sie hätte sich das nicht ausgesucht, aber sie hat es getan.«
    Nach einer Weile krieche ich über den Buckel in der Mitte zurück auf die Beifahrerseite des Führerhauses, und William T.schiebt wieder sein Buttermesser ins ehemalige Zündschloss. Weiter geht's.
    Ivy und ich hatten einen Unfall. Es dämmerte schon in den Adirondacks, und der hellblaue Truck kam immer weiter auf uns zugeschlittert. Kann Ivy ihr Leben überhaupt noch sehen, irgendwo in der Tiefe ihres Gehirns, ihres Gehirns, das nur noch eine Linie auf einem Monitor ist? Kann sie sich noch erinnern an den Abend auf dem Heuboden? All die Abende auf dem Heuboden, all die Abende, als wir klein waren und später nicht mehr so klein, als wir größer wurden, Teenager waren, als aus Joey Joe wurde und aus Rosie Rose und aus Tommy Tom und Ivy Ivy blieb? Ivy fing als Ivy an und bleibt Ivy.
    An jenem Abend hat Joe Miller zu ihr gesagt: »Was würdest du tun, wenn du keine Angst hättest, Ivy?«
    Da ist sie gesprungen. Ein Sausen über unseren Köpfen – wir saßen alle auf Heuballen im Dunkeln –, und weg war sie.
    Durch das glaslose Fenster ist sie geflogen, ist einfach verschwunden, ohne ein Geräusch. Weg war sie. Und wir sind aufgesprungen und losgerannt, zur Scheune hinaus, den Hang hinunter. »Ivy? Ivy! Ivy!« Da war sie, auf den Steinen, auf die sie gestürzt war, den langen flachen Steinen, die das Quellhaus umgaben, wo das kühle Wasser aus dem Boden sprudelt. Auf den Steinen, die ihr den Arm und den Knöchel gebrochen haben. Wir sind gerannt, haben die Arme verschränkt, sie hochgehoben und nach Hause getragen, von da ging's gleich ins Auto und nach Utica, zum Krankenhaus mit den Neonlichtern und dem Gips, der ihr für den Rest des Sommers blieb.
    »Scheiß drauf«, hat Ivy gesagt. »Das war's wert.«
    Von Joe kam kein Wort des Bedauerns – darüber, dass er sie angestachelt hatte, herausgefordert hatte. Und sie wollte auch nichts dergleichen von ihm hören.
    Das Herz meiner Schwester arbeitet, es pumpt und pumpt und pumpt. Als der Truck auf uns zuschlitterte, hatte sie da die Hände am Steuer, hat sie versucht, ihm auszuweichen, irgendwohin zu lenken, durch eine Leitplanke gegen einen Baum, egal wohin, nur weg von dem Truck, der immer weiter auf uns zukam? Oder waren ihre Hände an der Windschutzscheibe und versuchten, den Truck aufzuhalten, wegzuschieben?
    Ich weiß es nicht. Meine eigenen Augen waren geschlossen.
    Das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass im letzten Moment ihr Arm da war und fest gegen meine Brust drückte. So wie Mütter es bei ihren kleinen Kindern machen. Meine Schwester hat versucht, mich zu schützen.
    »Hast du?«, hat sie zu mir gesagt in jenem luziden Intervall, dieser kurzen Zeitspanne, bevor die Blutung sich zu weit ausbreitete und ihr Gehirn abschaltete. »Hast du?«
    Hab ich was, Ivy? Sag's mir, Schwester.
    Ich sitze mit meinem Pompejibuch auf dem grünen Stuhl. William T. sitzt hinter mir und liest, was es über den Vogel des Tages zu wissen gibt. Es ist die Einsiedlerdrossel, die einzige braune Drossel, die man in kaltem Klima antreffen kann. Wenn die Einsiedlerdrossel aufgeregt ist, flattert sie mit den Flügeln und hebt und senkt den Schwanz. Ihr charakteristischer Ruf ? Ein nasales sriiiiiii .
    »Stellt euch das vor«, lese ich weiter meinen erfundenen Text vor. »All
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