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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman
Autoren: Alison McGhee
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nicht, aber ich hab's trotzdem getan. Scheiß drauf, hätte William T. gesagt.
    »Was und?«, sagte der Mann, ohne zu lächeln.
    »Hab ich bestanden?«
    Er sah mich an. Er musterte mich, und ich sah ihm direkt ins Gesicht. Vielleicht merkte er, dass ich älter bin als meine Jahre. Vielleicht merkte er, dass ich eine Siebzehnjährige bin, die den Krieg durchgemacht hat, und dass ich keine Zeit für irgendwelche Spielchen habe.
    »Das Einzige, was ich Ihnen sagen kann, Miss Latham«, sagte er, »ist, dass ich Sie nie wiedersehen werde.«
    Mehr wollte ich ja auch nicht wissen.
    Am ersten Abend, als ich meinen Führerschein hatte, bin ich in den Datsun gestiegen und zum Haus von Jimmy Wilson gefahren. Ich habe geklopft. Jimmy kam zur Tür und erstarrte, als er sah, dass ich es war. Ich wusste, er wollte nicht mit mir sprechen, aber er war zu höflich, um mir die Tür vor der Nase zuzuknallen und wegzugehen.
    »Ich wollte dir nur sagen, dass es mir leidtut«, sagte ich.
    Er sah mich stumm an.
    »Ich habe nach etwas gesucht, das es wegnehmen würde«, sagte ich. »Was mir helfen würde zu vergessen.«
    Er sah mich weiter an.
    »Mit dir hatte das nichts zu tun«, sagte ich. »Ich vermute, ich wollte nur irgendetwas fühlen. Das klingt verrückt, ich weiß. Aber es tat einfach so weh.«
    Er sah mich lange an.
    »Nie würde ich dir wehtun wollen, Rose«, sagte er dann. »Niemals.«
    Es schnürte mir die Kehle zu, als ich seine Stimme hörte, so leise, so zögerlich. Ich nickte. Ich wollte dir auch nicht wehtun, Jimmy, aber ich hab's trotzdem getan. Ich habe mich umgedreht und bin wieder in den Datsun gestiegen.
    Kraniche hängen an den Fensterrahmen in Ivys Zimmer, am Lichtschalter, an den Lampen, am Bettgestell, an der Deckenbeleuchtung. Kraniche hängen an Fäden, die an aufgebogenen Büroklammern befestigt sind, an Tassenhaken, die in die Zimmerdecke geschraubt sind. Alles William T.s Werk.
    »Sei bloß vorsichtig«, sagte ich, als er auf den blauen Stuhl stieg.
    »Mm-m.«
    Als alle Haken eingeschraubt waren, klopfte er sich den Staub von den Händen. Gut gemacht. Origamikraniche schweben leicht, flattern im Wind. Die einzigen bei uns heimischen Vögel, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Kranichen haben, sind Reiher. Einmal habe ich einen Amerikanischen Graureiher gesehen. Er stand auf einem Bein am Ufer des Deeper Lake. Er beugte sich tief hinunter und tauchte seinen langen Schnabel in das dunkle kühle Wasser.
    Meine Mutter, meine nichtnormale Mutter, hat die Kraniche für ihre Tochter gemacht. Unterschätz deine Mutter nicht, Kleine, sagtWilliam T. Sie tut ihr Bestes. Tausend Kraniche hängen über Ivy, zittern in der Luft, die jedes Mal in Bewegung gerät, wenn die Tür zu Ivys Zimmer aufgeht und jemand hereinschlüpft. Meine Mutter, ich, William T., Angel oder der Arzt.
    Alle schlüpfen wir vorsichtig herein.
    Das tun wir, damit Ivy nicht erschrickt auf ihrem Bett, wo sie in ihrem langen stummen Gebet liegt. Wir wollen keine donnernden, lauten, Angst machenden Geräusche mehr, an deren Ende nur Schmerz wartet. Hatte Ivy nicht genug davon? Hatten wir alle nicht genug davon?
    William T. hat meine Mutter festgehalten am Tag des Unfalls, als sie an seinem Auto standen, hat ihr übers Haar gestrichen, während Crystal dicht bei ihnen stand und weinte.
    Tom Miller fährt in der Dunkelheit zu dem Stein, der den Namen seines Vaters trägt.
    Spooner sitzt in der Sonne und macht das Geflecht für Korbstühle.
    Meine Mutter verbringt ihre Tage damit, Flaschen aufzurichten, und ihre Abende mit dem Falten von Kranichen. Neulich habe ich zugesehen, wie sie ein Blatt von dem Klemmbrett an Ivys Fußende abgerissen und einen Kranich daraus gefaltet hat, aus diesem eingerissenen, beschriebenen Blatt Papier.
    Und was mache ich? Wie komme ich los von diesem hellblauen Truck, der wieder und wieder und wieder – in alle Ewigkeit – auf und in und durch meine schöne Ivy schlittert, deren Arm zur Seite flog, um mich zu schützen?
    Wir alle laufen herum mit einem Stein in unserem Schuh.
    »So, so«, sagt meine Mutter. »Der junge Miller also. Liebst du ihn?«
    »Ja.«
    Meine Mutter sieht mich von ihrem Schaukelstuhl aus an. Ich spüre die volle Kraft ihres Blickes. Ich sage nichts. Sie sieht mich lange an, und ich schweige lange.
    Je länger du schweigst, desto mehr Macht hast du. Schweigen ist das, womit Menschen niemals rechnen. Sie rechnen mit Worten, mit Bewegung, Verteidigung, Beleidigungen hin und her. Sie sind kampfbereit. Startklar,
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