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Ich habe die Unschuld kotzen sehen

Titel: Ich habe die Unschuld kotzen sehen
Autoren: Dirk Bernemann
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passiert. Aber es gibt Dinge, an die gewöhnt man sich nie so wirklich. Wie an diese Sache.  
    Ich brau che eine verdammte Kur und schnell noch einen Whisky und Sex. Doch der Rahmen meiner Möglich keiten ist begrenzt. Statt Kur hab ich jetzt zwei Wochen Sonderurlaub, statt Whisky meinen billigen Korn und statt Sex nur mich selbst.
    Und ich hab mich nicht mal lieb.
    Es kotzt mich quasi an, mit mir selbst Sex zu haben. Ich bin einsam in einer deutschen Großstadt. Es ist eine Mörderstadt und eine Selbstmörderstadt. Und ich transportiere Mörder und Selbstmörder durch diese Stadt, denn ich lenke eine scheiß Straßenbahn durch diese scheiß Stadt.
     
    So ist es.
    Und gestern ereilte mich zum ersten Mal innerhalb von sieben Jahren dieses Straßenbahnlenkerschicksal. Selbstmörderin aus dieser Selbst mörderstadt sprang vor meinen Zug.  
    Einfach so.
    Sie wollte nicht zusteigen, sie wollte aussteigen.
    Aus ihrem Leben.
    Die Polizei sagte später, dass dies ein absolut geplanter Suizid gewesen wäre. In der Hosentasche eines etwas weiter entfernt liegenden Beines von ihr fand man nämlich einen Abschiedsbrief. Sie hieß Linda, Laura oder Lydia und war eine Prostituierte, unfähig, ihrem Sumpf auf andere Weise zu entkommen.
    Als sie auf meine Scheibe klatschte, war da nur noch Blut und irgendwas in Grün und Gelb, was so runterlief. Ihr Körper verteilte sich beim Aufprall in viele Richtungen und das Geräusch von brechenden Knochen und dem Schädel auf Glas zirkulierte Momente lang vor meinem Zug.
    Mein Bremsreflex löste aus, als sich die Leiche bereits über Schienen und Straßenrand verteilt hatte und etliche Passanten von den Schreien anderer herbeigelockt wurden und mich, meinen Zug, andere Passanten und Frauenleichenteile einfach nur anstarrten. Ich entstieg also meinem scheiß Zug und starrte erst mal mit.
     
    Da lag ein hübsches Bein, ungefähr 7 Meter von hier weg, oben guckte der Oberschenkelknochen raus. Da neben stand ein altes Ehepaar und sie gafften dieses hübsche Bein an und schüttelten ihre Köpfe, während sie so starrten. Nicht weit davon der tote Oberkörper von der Hüfte bis zum Hals, blutver schmiert.  
    Unweit davon hatte ein junger Mann Pro bleme damit, seinen riesigen, sabbernden Köter zu rückzuhalten, der sich über dieses Stück Menschen leichenfleisch bereits gierig hermachen wollte.
    Ihr Kopf bzw. gesichtsloser Schädel lag direkt vor mei nem Zug auf den Gleisen und starrte mich an, al lerdings ohne Augen. Die Nase da, wo ein Kinn sein sollte und der ganze Schädel war oben offen. Aus dieser obigen Öffnung lief diese grüngelbliche Masse auf die Gleise, zähflüssig und sickernd.
    Der Mund war noch an seinem Platz, daraus quoll Blut, und lächelte mich an, als ob er sagte: Danke, mach dir keinen Stress, ist schon korrekt gelaufen so.
    Ich lä chelte zurück und dachte: Keine Ursache, Mädchen.  
    Kein Ding. Jederzeit.
     
    Das war also gestern, und jetzt ist deswegen Urlaub. Die Tote ist natürlich noch da, in meinen Gedanken.  
    So was vergisst man nicht einfach so.
    Vielleicht auch nie.  
    Was ich jetzt habe, ist Einsamkeit und das Bewusstsein, am Sterben von jemandem beteiligt gewesen zu sein. Frage mich, ob dies Bestimmung ist oder Pech oder Glück oder was auch immer. Irgendetwas Göttliches schwebt im Raum und ich bin unfähig, es zu erfassen und einzugrenzen, doch ich spüre auf einmal die Gegenwart Gottes.
    Dann fängt Gott an zu reden und sagt, ich solle raus in die Stadt, mich besaufen. Alles klar Gott, keine Sache, hatte ich eh vor. Dann schweigt Gott, während ich mich anziehe und alles einstecke, was man brau chen könnte. Geld, Zigaretten, Kondome.
    Als ich in den Spiegel blicke, gefalle ich mir ein wenig und winke mir selbst zu. Das soll laut so ‘ner Psychosendung, die ich mal gesehen habe, fürs Ego sein.
    Ich winke und grinse blöd.
    Das ist irgendwie cool. Auf in die Stadt und in Erwartung, vielleicht noch mal mit Gott in Kontakt zu treten. Laufe erst mal los. Durch meine Straße, Richtung das, was alle City nennen. Dafür benutze ich unter anderem die Straßenbahn, das Selbstmördervehikel.  
    Diese hier fährt der Sven. Net ter Kerl, hatte auch schon Zwischenfälle in der Art. Verheiratet, zwei Kinder.
    Dann fällt mir ein, dass er eigentlich ein Arschloch ist. Egal. Er fährt dieses Teil und bringt mich in die Partyzone der Stadt. Vom S-Bahnhof sind es nur circa zwei Kilometer Fußweg, bis man die erste passable Kneipe erreicht. Ich erreiche sie und sie
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