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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge
Autoren: Ernst Weiß
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wie etwas Fremdes, wie eine zweite Person, sondern ich liebte sie, wie ich mich selbst liebte. Ich und sie gingen ohne Unterbrechung ineinander über. Ich sah sie und fühlte sie bei mir, selbst wenn ich allein war. Das machte mich aber nicht träumerisch und weich, im Gegenteil, es machte mich kühn, meiner selbst sicher. Der während meiner ›Leiden und Schmerzen‹ erwachte Trieb zum Herrschen war nach meiner Heilung nicht schwächer geworden, aber ich versuchte diesen Trieb nicht an ihr, so wie ich es manchmal (bisweilen mit Erfolg, bisweilen auch nicht) mit meinem Vater tat. Wir waren zu sehr eins, sie und ich.
    Die Ferienzeit stand nahe bevor, mein Vater dachte natürlich daran, daß wir nach S. gehen würden. Mir wäre dies am angenehmsten gewesen, und auch der Arzt war dafür. Meine Mutter aber hatte andere Pläne. Sie hatte, während ich in Gefahr war, ein Gelübde getan, nämlich nach Altötting zu pilgern, und dieses Gelübde wollte sie erfüllen. Ich sollte sie begleiten. Es wurden alljährlich, meist im Herbst, nach der Ernte, große Prozessionen zu dem wundertätigen Muttergottesbild unternommen, wobei besonders Bauernfrauen, die schwarzseidenen Röcke hochgeschürzt, in pechschwarzen Strohhüten mit herabwallenden schmalen Bändern über den knochigen, sonnengebräunten Gesichtern, alt und jung, reich und arm nebeneinander, in Reih und Glied durch den Straßenstaub wateten, dem voranschreitenden Geistlichen seine Litaneien im Chor nachsingend und ihre Rosenkränze fromm abrollend. Unmittelbar hinter dem Geistlichen zog manchmal auch eine kleine Zahl von Stadtfrauen und ehrbar gekleideten, meist älteren Herren einher. Zu ihnen hätte sich meine Mutter gesellen können. Sie würde sich diese Anstrengung wohl zugetraut haben, aber nicht mir. In Wahrheit aber war sie jetzt schon viel schwächer und anfälliger als ich. Sie kam auf den Gedanken, einen Wagen zu mieten und jeden Tag nur eine gewisse Strecke zu Fuß zu pilgern. Wenn ich dann nicht mehr weiterkonnte, sollte die Kutsche uns weiterbefördern. Meinem Vater verschwieg sie diesen Plan. Wir besprachen uns heimlich, während er schon schlief.
    Da es aber dann fast ununterbrochen geregnet hat, sind wir nur wenig zu Fuß gegangen. Trotzdem kam meine Mutter gänzlich erschöpft und zähneklappernd vor Fieber im Wallfahrtsorte an. Die meisten Gasthöfe waren besetzt, endlich fanden wir ein kleines Kämmerchen. Diesmal war ich es, der an ihrem Bette wachte. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr abwenden. So schön war sie. Manchmal sah sie in ihrem Fieberglanz jünger und bezaubernder aus als die honigblonde Viktoria.
    Ich betete nie für mich. Für sie tat ich es. Nach zwei Tagen Fieberfrost und -hitze stand sie plötzlich vergnügt auf, machte sich ohne Mühsal auf die letzte Partie des Wallfahrtsweges, einen steil ansteigenden Weg, an welchem die Leidensstationen des Heilandes in bunten Holzbildern angezeigt waren. Abends fasteten wir, am nächsten Tag empfingen wir die Sakramente, liefen dann aus Angst, den Zug zu verpassen, zum Bahnhof und fuhren nach S., wo uns der Vater, diesmal ganz unbescheiden lachend, bereits erwartete, Blumen in der Hand. Meine Mutter blieb aber etwas ernst. Es begann leise zu regnen, und das Dach unseres Häuschens, mit dicken Steinen oben belastet, glänzte.
     
    Während der ersten Tage gab es fast ununterbrochen Regen. Ich schlief jetzt viel und aß für drei. Das Schwimmen war mir untersagt worden, ich litt also nicht so unter dem schlechten Wetter, als wenn ich ins Wasser gedurft hätte. Meine Mutter war still, sie sorgte sich um mich. Ich strahlte jetzt vor Gesundheit und Freude am Leben. Ich hätte Bäume ausreißen, in einem Rennen, ohne anzuhalten, um den ganzen See herumlaufen, mich von einer Bergwiese, den Kopf zwischen den Schultern, die Arme um die Knie, zu einem Knäuel zusammengerollt, herabkugeln lassen mögen. Meine Mutter hatte Geduld mit mir. Viel Geduld, ja.
    Aber war es der Aufenthalt in dem kleinen Orte am Ende des Sees, den sie niemals sehr geliebt hat, war es die Langeweile, das Fehlen ihrer gewohnten Beschäftigung im Haus oder der Umstand, daß sie jetzt nicht mehr gar so viel für mich tun konnte, sie war nicht mehr die alte. In ihren glänzenden, neuen, glatten Kleidern saß sie mißmutig am Fenster, hustete und sah fröstelnd hinaus. Ich bin niemals sehr gesprächig gewesen. Jetzt, wo ich es versuchte, erzielte ich nichts. Meine Mutter strich mir mit zerstreutem Gesichtsausdruck zart über mein
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