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Menschenfresser - Gargoyle - Posters Haus

Menschenfresser - Gargoyle - Posters Haus

Titel: Menschenfresser - Gargoyle - Posters Haus
Autoren: Martin Clauß
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1
    April 1994
    „Es gibt keinen Nachschlüssel, sagen Sie, Herr Zander?“
    Der knochige kleine Mann zuckte nervös mit dem Kopf. In seine ungepflegten weißen Haare mischten sich orangeblonde Strähnen. „Es … gibt schon einen. Irgendwo in meiner Wohnung muss er auch sein, bloß … tja …“
    Die beiden Polizisten ließen ihm alle Zeit der Welt, sich eine gute Ausrede einfallen zu lassen, doch auch alle Zeit der Welt schien ihm nicht zu reichen. Seufzend ließ er die schmalen Schultern sinken, sah die Beamten entschuldigend an, die Augenbrauen übertrieben zusammengezogen wie ein Schauspieler in einem alten Stummfilm. Sein blasses, wie geschminkt wirkendes Gesicht passte dazu.
    Zu dritt standen sie vor der abgegriffenen hellen Holztür. Es gab einen winzigen Spion, doch der war in dieser Richtung natürlich blind. Einige Leute hatten sich auf den Treppen versammelt und beobachteten das Geschehen. Alles Menschen, die hier wohnten. Irgendwie sahen sie sich sehr ähnlich. Keiner von ihnen schien jünger als fünfzig zu sein, sie wirkten schmuddelig. Es war Abendessenzeit, und sie trugen den Geruch von Bratfett mit sich herum.
    „Und wie lange, sagen Sie, haben Sie Frau Birk schon nicht mehr angetroffen?“
    Zanders Hände verkrampften sich, rieben und zerrten, schienen sich ineinander verstecken zu wollen. „Zwei … drei … Tage? Zwei Tage?“, flüsterte er.
    „Die alte Birk ist schon seit vier Wochen nicht mehr aus ihrer Wohnung gekommen“, rief eine dicke Frau von der Treppe her. Sie hielt sich mit einer Hand an der Wand fest, mit der anderen am Geländer, als fürchte sie, das Gleichgewicht zu verlieren. Die Wohnung der Birk befand sich im dritten Stockwerk, dem zweiten von oben. Die Wendeltreppe war so eng gedreht, dass ein erwachsener Mensch kaum in den Abgrund in der Mitte hätte fallen können, selbst wenn er sich alle Mühe gab.
    Einer der Beamten hob die Augenbrauen. „Vier Wochen? So lange?“
    „Ich … ich …“ Zanders Hände lösten sich voneinander, und nun begannen seine knorrigen Finger seine Wangen zu kneten. Es sah aus, als wolle er Stücke davon abreißen, so sehr zerrte er an seiner schlaffen Haut. „Ich hatte viel zu tun … kann mich nicht um alles kümmern …“
    „Waren es vier Wochen oder zwei Tage?“, fragte der Polizist ernst.
    „Vielleicht … drei Wochen“, räumte der Mann ein.
    „Kommt es öfters vor, dass die alte Dame ihre Wohnung wochenlang nicht verlässt?“
    Ruckartig schüttelte Zander den Kopf. „Nein, eher … nicht.“
    „Hat sie keine Verwandten, die nach ihr sehen? Bekommt sie nie Besuch?“
    „Eher nicht“, sagte der Hagere. „Eher nicht.“
    „Vor einem halben Jahr war mal ihr Sohn da, glaube ich“, mischte sich ein älterer Mann aus dem Hintergrund ein. „Sie hat einen Sohn. Er ist jünger als ich, aber älter als Sie, Herr Wachtmeister.“
    „Sie hätten uns früher rufen müssen“, gab der Polizist an Zander gewandt zu bedenken. „Viel früher.“
    „Ich weiß“, erwiderte dieser nur.
    „Wenn Sie den Schlüssel verlegt haben, müssen wir den Schlüsseldienst kommen lassen.“ Er pochte an die Tür und rief mit seiner tiefen, vollen Stimme Frau Birks Namen, wie er es zuvor schon mehrmals getan hatte. Auch diesmal erfolgte keine Antwort.
    „Ich dachte, Sie treten die Tür ein oder schießen das Schloss auf“, meinte einer der Schaulustigen.
    „Sie verwechseln etwas“, sagte der Polizist und wandte sich über Funk an sein Revier, von wo aus der Schlüsseldienst verständigt wurde. Während sie auf sein Eintreffen warteten, sprachen die Leute kein Wort miteinander. Niemand konnte im Ernst daran zweifeln, dass die fünfundachtzigjährige Frau Rosa Birk tot in ihrer Wohnung lag. Die Beamten hatten erfahren, dass bei ihr schon seit Jahren die Beine nicht mehr so recht wollten, dass sie bisweilen über Herzschmerzen klagte. Selbst wenn es nicht das Herz gewesen war, selbst wenn sie nur gestürzt war und sich den Oberschenkelhals gebrochen hatte, konnte sie nicht mehr am Leben sein. Vier Wochen waren eine zu lange Zeit. Falls sie sich nicht mehr hatte aufrichten können, musste sie verdurstet sein.
    Die Bewohner des Hauses vergaßen ihr Abendessen und harrten mit den Beamten und einem zusehends nervöser werdenden Herrn Zander tapfer im Treppenhaus aus. Zander hieß mit Vornamen Frank wie der Blödel-Schlagerstar aus den Siebzigern und war der Verwalter. Das Haus gehörte einem Bankiersehepaar aus Stuttgart, das sich niemals hier sehen
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