Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge
Autoren: Ernst Weiß
Vom Netzwerk:
Ich fühlte mich in seiner Gegenwart leichter als vorhin, und wenn man in solcher Lage von Frohsein sprechen kann, war ich froh, daß er und nicht der geistliche Herr als erster mir zur Hilfe kam. Der Arzt hatte mir den Ärmel des Nachthemdes hochgestreift, die Haut mit Äther gereinigt, das Morphium aufgezogen und einen Strahl der Flüssigkeit aus der kleinen Nickelspritze emporsteigen lassen, dann stach er mich geschickt in den Arm und zog die Nadel eine Sekunde nachher wieder zurück. Jetzt setzte er sich zu mir, sah zum Fenster hinaus, mit angespannten Zügen, schweigend, übernächtigt. Er gähnte hinter seiner mageren feinen Hand.
    Mich überkam ein sonderbares Gefühl der Milderung. Nicht daß die Schmerzen mit einem Schlag verschwunden wären. Im Gegenteil, sie dauerten weiter und sollten, wenn auch vermindert, noch sehr lange bleiben, aber über dem Schmerz lag wie ein Verband mit guter Salbe diese Beruhigung, dieser Schleier, diese Milde, dieses Schweigen, dieses Gähnen, das Hellerwerden im Zimmer. Meine Mutter trat ein, im Gesicht hochrote Flecken, in einem dunklen Kleid. Sie staunte sehr über die schnelle Verwandlung, die sie mir sofort ansah. Sie konnte nicht begreifen, daß der kleine, unscheinbare Arzt soviel vermocht hatte. Der Arzt zog die Uhr, hielt sie an sein Ohr, um zu sehen, ob sie noch ging, er zählte mir den Puls. Das Zimmer war nun sehr hell, war aber mir ganz fremd, ich sah alles klar, aber wie von weitem. Ich war hier und fuhr gleichzeitig über eine Brücke. Ich merkte, wie sie zusammen sprachen, verstand sie aber nicht mehr. Jemand wischte mir die Feuchtigkeit vom Mund. Das Tuch blieb weiß, also mußte es Winter sein.
     
    Diese ›Wunderkur‹ ist mir unvergeßbar geworden, vielleicht hat sie mich bestimmt, den Beruf eines Arztes zu ergreifen. Die Brücken meines Vaters hatten mich kalt gelassen. Das Militärswesen, das mich früher sehr gelockt hatte, war mir verhaßt. Die Wunderkur leuchtete mir ein.
    An der Person des Arztes, des braven Doktor Kaiser, lag es nicht, eher im Gegenteil. Meine Eltern ließen ihn zwar immer sofort kommen, wenn er notwendig war, aber sie nannten ihn ein notwendiges Übel. Manchmal waren sie in ihrer Geringschätzung sogar so weit gegangen, nach seinem Fortgehen die Fenster aufzumachen und den Raum zu lüften. Nicht etwa, weil der Arzt einen unangenehmen Geruch verbreitete, sondern weil er Jude war. Meiner Mutter war jeder Jude ›zuwider‹, obwohl sie nur wenige kannte und von keinem etwas wirklich Tadelnswertes wußte. Es war vielleicht ihre katholische Erziehung, denn sie ›mochte‹ die Lutheraner ebensowenig, die sie für ganz ›abgefeimt‹ hielt.
    Es gab in unserer Stadt aber noch einen zweiten Doktor Kaiser, einen sehr mageren, hochgewachsenen, stolzen, reichen Mann, der sich hier ein großes, abgeschlossenes Nerven- und Irrensanatorium und außerdem in S., einem kleinen Ort an einem schönen langgestreckten See, wo wir ein Holzhäuschen mit kleinem Obstgarten besaßen, eine prachtvolle, aus Marmor gebaute Villa mit Spiegelscheiben und einer Terrasse aufs Wasser hinaus gebaut hatte. Man sah ihn in der Stadt fast nie zu Fuß, er fuhr meist in einem mit zwei Apfelschimmeln bespannten Wagen, mit einem seiner Kinder auf dem Rücksitz, neben sich aber eine schöne junge Frau. Später gehörte er zu den ersten Besitzern eines Automobils.
    Während man unseren Hausarzt den Judenkaiser nannte, zog man vor dem anderen, dem Hofrat und Irrenarzt, zwar ehrerbietig den Hut, gab ihm aber spöttisch den Spitznamen Narrenkaiser.
    In den kommenden Tagen, während derer ich noch oft fieberte und sehr abmagerte, konnte ich viel über die ›Übermacht‹ eines Arztes nachdenken. Wenn schon dem unscheinbaren dicklichen Judenkaiser eine solche Gewalt zustand, wie unermeßlich mochte dann erst die Macht des Narrenkaisers sein.
    Es blieb nämlich nicht bei jener plötzlichen Zauberwirkung der Medizin aus der Totenkopfflasche. Wenn ich nachher noch so sehr von Schmerzen und Atemnot geplagt war, der Judenkaiser brauchte nichts zu tun, er brauchte nur mein Zimmer zu betreten – und ich atmete auf, im wahrsten Sinne des Wortes, und die Lungenstiche waren wie fortgeblasen.
    Schmerzempfindlichkeit war stets mein wundester Punkt. Meine Schulkameraden hätten es nie geglaubt. Ich aber wußte es nur zu gut. Es gibt ein sehr naheliegendes Mittel, sich Schmerzen zu entziehen, zum Beispiel bei den Kämpfen der Jugend unter sich, die sehr grausam geführt werden und wo jede
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher