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Die Bogenschützin: Roman (German Edition)

Die Bogenschützin: Roman (German Edition)

Titel: Die Bogenschützin: Roman (German Edition)
Autoren: Martha Sophie Marcus
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Prolog
    Brandenburg, 1414
    K omm doch, Kind«, flüsterte die Amme und zerrte an Hedwigs Arm. Die alte Frau atmete schwer und blickte immer wieder gehetzt zurück zu der Burg, in der sie beide zuhause gewesen waren, bevor Markgraf Friedrich seine riesige Kanone vor den Mauern in Stellung gebracht hatte.
    Um den Rhin zu überqueren, der nördlich der Burg Friesack floss, schoben sie ein Ruderboot aus dem Schilf und über das Eis zum offenen Wasser. Als sie auf der anderen Seite des kleinen Flusses die steile Böschung erklommen, schlugen ihnen die nassen Rocksäume schwer um die Beine. Oben hielt die Amme inne und fasste sich an die Brust.
    Diesmal war es Hedwig, die nach der Hand der alten Frau griff. » Komm, Amma. Mutter hat gesagt, wir sollen in den Wald gehen.«
    Die moorige Auwiese war überfroren, sie brachen bei jedem Schritt durch die dünne Eisschicht. Erst als es ein wenig hügelan ging, wurde das Vorankommen leichter.
    Die Amme sprach noch immer nicht, obwohl weit und breit niemand mehr war, der sie hätte hören können. Sie keuchte nur und stöhnte dann und wann, während sie auf den Waldrand zuhumpelte.
    Hedwig hatte immer gebettelt, die Edelfrauen in den Wald begleiten zu dürfen, wenn sie im Kreis der Herren und Jäger in ihren schönen Gewändern zu einer Jagd aufbrachen. Früher, vor ihrer letzten Schwangerschaft, hatte auch ihre Mutter sich dieses Vergnügen nicht nehmen lassen. Hedwig hatte sie noch vor Augen, wie sie auf ihrem weißen Zelter saß, einen Falken auf der Hand trug und einem Herrn zulachte. Nicht Hedwigs Vater, denn der war selten auf der Burg.
    Fröhliche Tage waren das gewesen, auch wenn ihre Mutter Hedwig nie erlaubt hatte, mit in den Wald zu reiten.
    Nun würde sie den Wald sehen und wünschte, sie dürfte in ihr sicheres Bett zurückkehren. Finstere Schatten lauerten zwischen den Bäumen, es raschelte, und ein Stück voraus brach etwas so laut durchs Gesträuch, dass Hedwig zusammenzuckte. Ein Hirsch, sagte sie sich fest, denn erlegte Hirsche und Hindinnen brachten die Jäger am liebsten aus dem Wald heim. Sie wollte kein Feigling sein. Feiglinge wurden gepeitscht, mit Honig bestrichen und den Bienen überlassen, hatte ihr Bruder Köne ihr erzählt.
    Die Amme blieb stehen und hielt sich mit einer Hand an einem Baum fest. » Ach, Kind. Dass ich das noch erleben muss.«
    » Wir müssen noch weiter. Bis zur Kreuzung nach Zootzen, hat Mutter gesagt. Du weißt doch, wo das ist?«
    » Ja, ja. Da lang«, gab die Amme zurück, doch sie klang merkwürdig gleichgültig.
    Das Laub auf dem Boden war mit fiederigem Reif überzogen und knisterte, Hedwigs Atem wurde zu weißem Hauch. Beides erinnerte sie daran, wie gefährlich es war, in der Winterkälte draußen den Weg zu verlieren. Doch daran durfte sie nicht denken. Sie beschäftigte sich damit, die unheimlichen Schatten des Waldes in ihrer Vorstellung mit Hirschkälbern, Eichhörnchen und Vögeln zu bevölkern statt mit Wölfen und Bären, stinkenden Keilern, Drachen, Auerochsen und Wegelagerern. So bemerkte sie es zuerst nicht, als die Amme zurückblieb.
    » Amma?« Sie lief zurück und kniete sich zu der alten Frau, die an einen Baum gelehnt dasaß.
    Die Amme umfasste schmerzhaft fest Hedwigs Arm. » Dass du mir nicht umkehrst. Sie werden dir wehtun. Hörst du? Dass du mir nicht umkehrst.« Selbst mit ihrem letzten Atemzug formten ihre Lippen die Worte noch einmal. Nicht umkehren.
    Hedwig hatte mit ihren zehn Jahren noch nicht viele Tote gesehen. Doch sie wusste, dass ein Mensch aufhörte zu atmen, wenn er starb. Weinend setzte sie sich neben die Tote ins bereifte Laub.
    Es dauerte nicht lange, bis ihre Zähne vor Kälte zu klappern begannen. Sie dachte daran, dass in manchen Wintern draußen steifgefrorene Leute gefunden wurden. Da lang, hatte die Amme gesagt. Da lang musste sie gehen und die Kreuzung nach Zootzen allein finden, um dort die anderen zu treffen, denen es gelungen war, aus der belagerten Burg zu fliehen. Die würden sie am Ende zu dem Zufluchtsort bringen, an dem sie ihre Mutter, ihre Brüder und ihre Schwester wiederträfe. Und vielleicht ihren starken, mächtigen Vater, der stolz auf sie sein würde, weil sie es allein geschafft hätte.
    Benommen vor Kummer und Kälte lief sie weiter. Es wurde schwierig mit dem » Da lang«, denn dichtes Unterholz und moorige Lichtungen zwangen sie zu Umwegen.
    In den noch dunklen Morgenstunden gestand sie sich schließlich ein, dass sie weder wusste, wohin sie gehen musste, noch, woher
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