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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge
Autoren: Ernst Weiß
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umgeben, ganz verlassen. Bald öffnete sich die Tür, und der lustige Tumult der Schule verstummte, bevor der Lehrer die Tür hinter sich geschlossen hatte.
    Unweit dieses Parkes befand sich die Kaserne des dritten schweren Reiterregimentes. Wenn wir nun mit krummem Rücken dahockten, den Kopf über unser Heft gebeugt, schläfrig vor Hitze und Langeweile, und still unsere Arbeiten niederschrieben, tönte plötzlich in verschiedenartig schnellendem Takt rhythmisch und klar der Klang der trabenden oder galoppierenden Pferde zu uns herüber. Wie oft war es meine (verbotene) Lust nach der Schule, an eine dicke hölzerne, aufgerauhte Barriere gelehnt, dem Reitdienst der Rekruten zuzusehen und die Peitsche des Sergeanten knallen zu hören. Bisweilen kam ein Soldat auf mich zu, in einer gelblichweißen Zwilchjacke trotz der Kälte, auf dem kahlgeschorenen Kopf eine tellerartige schirmlose Mütze, unter dem Arm ein dickes, hell eingestäubtes knusperiges Kommißbrot, das er gegen Tabak umtauschen oder sehr billig verkaufen wollte. Aber ich hatte leider weder Geld noch Tabak. Mit Bedauern sah ich, wie der Kürassier es mit seinen schweren Händen auseinanderbrach und die Stücke eines nach dem anderen den Pferden geschickt und ohne die geringste Angst verfütterte, welche es gnädig entgegennahmen. Ich weiß eigentlich nicht, warum dieses Brot solche Gier in mir erweckte. Ich bekam ja daheim alles, was sich ein vernünftiges Kind wünschen kann. Eines Tages mußte ein Soldat in meinen Augen diesen brennenden Wunsch nach dem Brot bemerkt haben, er trat sporenklirrend zu mir und hielt mir ein ziemlich großes Stück als Geschenk entgegen. Noch viel später erinnerte ich mich des merkwürdig beizenden Geruches nach Leder und Gerberlohe, den er um sich hatte.
    Ich nahm es, aber ich aß es nicht. Eben hatte ich mir etwas Bestimmtes vorgenommen, und dies mußte ich durchführen. Ich nahm meinen Mut zusammen, ging ein kleines Stück an der Barriere, dann an der Umfassungsmauer der Kaserne entlang und kam zu den Schildwachen, von denen nur die eine, die auf der rechten Seite, mich wahrgenommen hatte. Auf ihren Zuruf antwortete ich, ich müsse einen kranken Unteroffizierssohn, der in der Kaserne wohne, besuchen. Ich schlüpfte in den Eingang der Kaserne, kam in den Hof. Schon sah ich ein paar Gäule, drei glaube ich, die, mit den Zügeln einer an den anderen angebunden dastanden, und auf die harte staubige Erde klopften und mit den langen Schweifen um sich schlugen. Ich gab, eisig vor Angst, aber brennend vor Entzücken und Glück, meinen Willen durchgesetzt, meinen Mut bewiesen zu haben, dem mir zunächst stehenden Pferde ein Stück des Brotes. Sei es, daß meine Hand trotz alledem zu sehr zitterte, sei es, daß das Pferd diese Kruste nicht richtig aufnahm, sondern vielmehr fortstieß, das Brot fiel herab. Ich, jetzt einer gewissen Gefahr gruselnd bewußt, bückte mich trotz allem danach. Das Blut war mir aber so stark zu Kopf gestiegen, daß ich das Brot unter den vielen unruhigen Hufen nicht sah. Die Pferde, die vor der Mittagsfütterung standen und schon deshalb unruhig waren und welche die Stallordonnanz auf einen Augenblick allein gelassen hatte, waren militärfromm. Sie stutzten, sie lauschten auf ein Trompetensignal hin. Sie rissen eines am anderen, ich hörte, wie die Zügel knirschten. Ich konnte nicht auf, ich wand mich, immer noch am Boden, zwischen den zwölf Pferdebeinen hindurch, fand das Brot und war schon gerettet und hatte mich deshalb aufgerichtet, als ein Pferd – ich glaube, es war dasselbe, dem ich den Leckerbissen zuerst zugedacht hatte –, dem Trompetensignal nur zu gehorsam, mich mit dem Huf trat. Es war der erste wahrhaft ungeheure Schmerz meines Lebens. Ich hörte mich aufstöhnen und versank in Ohnmacht, aber nicht in Schmerzlosigkeit, ich war meiner Sinne nicht mehr mächtig und doch ganz wach in grauenhafter Pein. Zum Glück war der Huf an meinem Schultornister, ein dickes Lineal zersplitternd, abgeglitten. Ich fand mich wieder in einer Mannschaftsstube, bis zur Atemlosigkeit heulend vor Schmerz, den Tornister unter dem Kopf, unter den Füßen eine Pferdedecke. Der Schmerz brannte im Rücken, ich konnte nicht atmen und mußte doch schreien. Sonst hätte ich sterben müssen, fühlte ich. Die Soldaten standen herum, die meisten sahen nachdenklich und mißmutig auf mich hin. Einer beugte sich über mich und fragte mich. Sprechen konnte ich nicht. In meinen Büchern stand meine Adresse, ich wies mit der
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