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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge
Autoren: Ernst Weiß
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ihn zu beherrschen versucht hatte. Aber was half es? Ich biß die Zähne zusammen. Ich hielt den Atem an. Dieses Atemanhalten ist für mich immer ein schmerzverhütendes oder schmerzlinderndes Mittel gewesen. Hätte der Arzt nur sofort mutig zugestochen! Er suchte aber lange die beste Einstichstelle, tastete vorsichtig hin und her, klopfte und horchte und kitzelte mich grausam. Es war dann höchste Zeit, daß er mit der dicken Hohlnadel mir zwischen die Rippen fuhr. Kein Schmerzenslaut kam mir über die Lippen. In der folgenden Nacht schlief ich nicht. Ich hielt mich für einen seltenen, für einen ungewöhnlichen Menschen, über den der Schmerz nichts vermag.
     
    Ich habe vergessen zu berichten, daß mir der Judenkaiser vorgeschlagen hatte, mir einen kleinen Ätherrausch zu geben, wenn ich glaubte, den Eingriff nicht aushalten zu können, aber das unverständliche Wort Ätherrausch hatte mich mehr erschreckt als der Gedanke an Schmerzen. Ich hatte mich stark gemacht und war stark gewesen.
    Mit diesem kleinen schmerzhaften Eingriff, den der Arzt am nächsten Tage als ›prächtig gelungene Rippenfellpunktion‹ bezeichnete, war mir sehr geholfen. Das Fieber sank mit einem Schlage wie fortgezaubert, zum Entzücken meiner Mutter, die dem Arzt als Extrahonorar an diesem Tage aus ihrem Wirtschaftsgelde ein goldenes Zwanzigmarkstück verehrte, das dieser schwitzend und errötend – es war an jenem Tage sehr heiß – einsteckte. Er kam nicht mehr so oft zu mir. Zwei Tage danach durfte ich zum erstenmal aufstehen, und bald kam ich auf die Straße und in die Schule und wurde sehr bewundert.
    Ich war stolz auf meine Heilung. Ich sah zwar bei näherer Überlegung ein, die Punktion, die aus der Entfernung von etwas trüber, gelblichroter Flüssigkeit aus dem Brustraum bestanden hatte, wäre auch dann gelungen, wenn ich mich weniger tapfer gehalten hätte. Aber ich hatte mich gehalten. Ich hatte nicht gemuckst. Ich hatte also doppelten Mut bewiesen, zum ersten, als ich mich in die Gefahr begeben hatte, von einem Rudel wilder Pferde (so sah ich es jetzt) zerstampft zu werden, und dann, indem ich die Schmerzen, die ungewöhnlich groß waren, mit ungewöhnlicher Seelenruhe und Selbstbeherrschung auf mich nahm. Ich sagte mir immer wieder vor: Ich kann, wenn ich will. Ich strahlte in meinem Innern vor Freude und Stolz. In der Tat war jetzt auch mein Schülerehrgeiz erwacht. Ich, der bis dahin ein träger, bequemer Schüler gewesen war, stürzte mich über die Bücher, und ohne daß mich jemand mahnen mußte (mein Vater staunte sehr), holte ich das in diesen Monaten Versäumte bis zur letzten Lektion nach. Auch das ein Grund des Stolzes.
    Der Arzt hatte mich liebgewonnen. Jetzt brauchte ich ihn aber nicht mehr. Er kam ab und zu, setzte sich zu mir an den Tisch und unterhielt sich mit mir. Ich erfuhr, daß er seine Frau verloren hatte und daß er mit seiner Tochter Viktoria lebe. Ich stellte mir dieses Geschöpf als ein ältliches vertrocknetes Mädchen vor. Eines Tages, kurz vor Beginn der Sommerferien, kam ich am Mädchenlyzeum vorbei. Vor dem Tore wartete der Judenkaiser, seine abgeschabte Instrumententasche unter dem Arm, statt in den alten Gehrock in ein etwas verwaschenes hellblaues Lüsterjackett gekleidet. Als die Schulglocke ausgeläutet hatte, eilte ein bildschönes, schlankes, honigblondes junges Mädchen in weißem, fußfreiem Strickereikleide auf ihn zu. Er nahm ihr ein Blatt aus der Hand und strahlte dabei vor Stolz und Freude. Es war seine Tochter, die an diesem Tage die Schlußprüfung im Lyzeum mit glänzenden Noten bestanden hatte.
    Meiner Mutter hatte ich mich während meiner Krankheit Herz an Herz angeschlossen. Ich hatte sie immer geliebt. Jetzt wußte ich es mit klarer Überlegung. Ich hatte mich während der Krankheit sehr verändert, sie aber auch. Nicht, daß sie jetzt von Zärtlichkeiten und Koseworten übergeströmt wäre, aber sie tat etwas, was sie bis jetzt immer vermieden hatte: sie begann sich für mich zu schmücken. Sie kaufte das Schönste, was sie bekommen konnte, ihr Sinn stand auf einmal nach kostbarem Schmuck, und sie stellte sich manchmal, leise hüstelnd, vor das Schaufenster eines Juweliers, und ihre überaus glänzenden schwarzkirschfarbigen Augen wanderten von den ausgestellten Broschen und Armbändern zu einer zweireihigen Perlenkette und zurück. Ihr Arm, der sich in meinen schlang, als suche sie Schutz, begann leicht zu zittern, nur mit Widerstreben ging sie fort. Ich liebte sie nicht
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