Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge
Autoren: Ernst Weiß
Vom Netzwerk:
vom Heck aus mit einem flachen Holzscheit geschieht, das man in eine drehende Bewegung versetzt, wobei sich der Ruderknecht mit dem ganzen Gewicht seines Körpers hineinlegen muß. Anfangs kam mein Vater, sehr zum gutmütigen Spott der Fischer und der jungen Mädchen am Ufer, nicht von der Stelle, ja, der Kahn, den man dort die ›Plätte‹ nennt, kam zurück. Da er aber sehr kräftig und geschickt war, erfaßte er bald die Kunst und brachte eines Abends meine Mutter dazu (es war ihr Namenstag), sich in die mit einem an Drähten hängenden Lampion geschmückte Fischerplätte zu setzen und sich, mit mir zu ihren Füßen, bis nach der kleinen Stadt T. rudern zu lassen. Ich hatte Angst, die feuchte Luft des Sees könne ihr schaden, aber merkwürdigerweise schien sie sich schon besser zu fühlen, sie hüstelte fast gar nicht mehr. Der ernste, verschlossene Ausdruck ihres bisher so kindlichen Gesichtes war nicht geschwunden, er paßte nicht gut zu dem sehr schönen neuen Seidenkleide und der schmalen goldenen Brosche, die meine Mutter zur Feier des Tages trug. Mein Vater sang auf der Heimfahrt, ich und sie blieben still. Bald nachher tat sie die neuen Kleider in die Truhe und trug sie nicht mehr.
    Am nächsten Tage lockte es mich in das Moor. Das Ende des Sees bestand aus immer flacher werdenden Kieselgründen, die mit Schilf bewachsen waren und um die das dicke Dampfschiff in weitem Bogen herumfuhr. Landeinwärts, jenseits der um den See führenden breiten Fahrstraße, begann eine ganz andere Landschaft, nicht festes Land, aber auch nicht Wasser, eines ging ins andere über. Einige kleine fischreiche, aber grundlose, gefährliche Seen, die Osterseen genannt, glänzten in fahlem, mattem Grün. Es führten schmale Fußwege durch das Gelände, in dem sich weit und breit keine Hütte befand. Erst am Rande, dort, wo es wieder bergan ging, standen ein paar elende Baracken der Torfstecher. Alles war hier anders als am Seeufer, die Pflanzen üppiger, die Vögel schreckhafter, mit bunterem Gefieder und von unbekannten Arten, die Schmetterlinge größer, aber, wie mir schien, weniger scheu. Auch die Luft zitterte hier in der Sommerhitze anders als über den Wiesen, den Feldern, dem freien Wasser. Ich versuchte, einen Falter mit saphirfarbenen Flügeln, der sehr träge schien, zu fangen. Ich zog ihm nach, oft über weiche Stellen oder kleine Rinnsale springend. Eine alte Holzstange mit einem vermodernden Heubündel zeigte hier und da, eigentlich selten genug, Gefahr an. Mich lockte der unter meinen Füßen federnde Grund. Ich bekam endlich mit Geduld und List den Schmetterling unter meinen Hut. Dann aber dachte ich daran, daß ich ihn rauh anpacken müßte, wenn ich ihn behalten wollte, und fand ihn zu schade. Er flatterte unbeirrt davon, die edelsteinfarbenen Flügel lautlos entfaltend. Als ich zum Weg zurückwollte, war plötzlich rings um mich alles Moor. Vom Ort her hörte man in der großen Einsamkeit und Stille die mir wohlbekannten Töne der Turmuhr sechs Uhr schlagen. Es war also noch früh. Es wurde wieder heller. Was ich für die Abenddämmerung gehalten hatte, war nur eine Wolke gewesen, die sich vor die Sonne gestellt hatte. Ich versuchte noch einmal, aus dem Moorgrunde herauszukommen. Hätte ich nur gewußt, wie ich hergekommen war. Ich war gesprungen, den Hut über den Falter werfend. Aber die Spuren meiner genagelten Schuhe waren inzwischen von dem gurgelnden Grund aus wieder gänzlich ausgeglichen, und wo ich es von neuem versuchte, sank ich ein. Ich hörte Stimmen, Lachen und Jodeln. Ich konnte aber niemanden sehen. Überall standen Gebüsche, Weiden und Erlen, hohes Schilf in der Blüte, Ginster und Gras. Moor und Land durcheinander, von kleinen Wegen durchzogen. Wildvögel flatterten auf, grüne und blaugoldene Flecke am Halsgefieder und an den Flügeln. Frösche quakten, und Grillen sangen aus der Nähe im Chor. Ein Hund bellte, andere Hunde stimmten ein. Ich rief um Hilfe, schämte mich aber, laut zu schreien. Ich zog die Schuhe aus, nahm die Schnüre derselben in die Hand und versuchte, ob ich mit bloßen Füßen über die mit trügerischem Grün verdeckten Stellen kommen könnte. Ich atmete tief auf, überall roch es herb nach dem Moor, nach Torf und nach heißem Gras. Aber ich machte den Fehler, den, wie ich nachher erfuhr, die meisten in ähnlicher Lage machen. Ich war, nachdem ich anfangs zu tollkühn gewesen war, nun zu vorsichtig, ich stützte mich auf ein Bein, statt mit beiden fortzuspringen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher