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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge
Autoren: Ernst Weiß
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Außerdem bereitete mir die Nacktheit der Füße ein häßliches, kitzelndes Gefühl. Wenn ich dann mit kaltem Schrecken merkte, daß der eine Fuß unter meiner Körperlast langsam, aber sicher, Zentimeter für Zentimeter in dem glucksenden Boden versank, versuchte ich natürlich, mich auf den anderen zu stellen und den ersten herauszustemmen. Dies gelang aber nur in dem Maße, als der zweite tiefer in den teigartigen gurgelnden Ungrund versank. So arbeitet sich der Mensch, der es nicht versteht, ins Moor immer tiefer hinein. Das Lachen und Bellen war wieder schwächer geworden. Die Menschen, deren Lachen ich gehört hatte, konnten doch nicht sehr weit sein? Aber vielleicht doch, da hier die Luft den Schall sehr weit trägt. So hörte ich die Kühe brüllen, die mindestens eine halbe Stunde von hier am Rande des Waldes in einer Wiese weideten. Ich gab, mich sehr beherrschend, die Versuche auf, aus eigener Kraft herauszukommen. Ich setzte mich hin, beruhigte mich, bis die Stiche in der kaum vernarbten Bruchstelle der Rippen nachließen. Ich holte die Strümpfe aus der Tasche meiner Joppe und zog sie mir auf die noch schwarzen, klebrigen Beine. Plötzlich tauchten, während ich damit beschäftigt war, hinter den Gebüschen ein paar Menschen und eine Koppel Hunde auf. Es war der Narrenkaiser mit seinen drei Jungen. Er und sein ältester Sohn hatten Gewehre auf der Schulter, aber nur er hatte Wild, eine bunte Ente, glaube ich, in der Jagdtasche. Der grün und blaugolden gesprenkelte Hals und der Kopf mit dem gelben Schnabel hingen heraus. Aus dem Schnabel sickerte etwas Blut. Sie schritten alle auf festem Boden ruhig einher. Ich sprang auf, ihnen nach, und war auf festem, gutem, hartem Boden wie sie, die gar nicht ahnten, was dieser Sprung für mich bedeutete.
     
    Der kleine Fußweg führte zwischen Gebüschen keine fünf Meter an meiner Insel im Moor vorbei. Ich hätte die Richtung längst an der hier stehenden Warnungsstange erkennen können. Aber ich hatte wieder einmal die Gefahr aufgesucht und hatte mich dann verloren, als sei ich blind. Beschämt trottete ich hinter dem Narrenkaiser und seinen Jungen nach dem Ort zurück. Der zweitälteste Sohn, ein ganz hübscher, aber etwas schüchterner Junge, schien an mir Gefallen gefunden zu haben. Über beide mit zartem Flaum bedeckte Wangen errötend und in einem vertraulichen Lächeln seine schönen Zähne zeigend, sprach er mich an, er kenne mich schon seit langem, denn seine Familie käme wie die meine alljährlich her. Er stotterte im Anfang, bald beruhigte er sich, wir blieben hinter seinem Vater und seinen Geschwistern zurück, ließen sie zusammen mit den lebhaft kläffenden Hunden den Weg in den Wald einschlagen, während wir zu unserer Gartenpforte gingen. Wenn man sie öffnete, erklang immer eine alte, rostige, heisere Schelle. Meine Mutter kam unfreundlich vom Hause auf uns zu, mit finsterem Gesicht musterte sie meinen Gast. Ich lud ihn ein, sich an den Tisch zu setzen, wo Teller mit Obst standen, und sich nachher in die Hängematte zu legen. Ich wollte ihm etwas anbieten, den Gastgeber spielen. Aber der Blick meiner Mutter wurde noch kälter, er merkte es, und, ein Stück eines großen, aber sauren Apfels noch im Munde, nahm er mit einer ungeschickten, eckigen Verbeugung, die meine Mutter mit einem ebenso eckigen Kopfnicken eisig beantwortete, Abschied von uns. Auch ich war so verlegen, daß ich vergaß, ihn zu fragen, ob ich ihn wiedersehen könne. Aber am nächsten Tag, als ich meiner Mutter aus Andersens Märchen vorlesen wollte, sah ich ihn, mit einem der Hunde seines Vaters an der Leine, an unserem Hause vorbeistreichen. Meine Mutter nahm mir die Unterbrechung im Lesen übel. Sie warf mir meinen Hut, der auf einem Sessel lag, zu, stand auf und stieß mich förmlich aus dem Garten heraus, ich solle keine Minute verlieren, solle ausbleiben, solange ich wolle, und mich verlustieren wo immer. Ich zögerte, aber es half nichts.
    Und gerade an diesem Morgen hatte ich doch die feste Absicht gehabt, sie zu erfreuen und zu zerstreuen, da mir der gestrige Abend in trüber Erinnerung geblieben war. Nicht etwa wegen des Helmut Kaiser, meine Mutter hatte ja immer gewünscht, ich solle mit Gleichaltrigen verkehren. Sondern wegen etwas anderem. Nichtsahnend hatte ich mich abends ausgekleidet und dabei an meinen Füßen die Spuren der klebrigen Moorerde wahrgenommen. Ich hatte, auf den Zehenspitzen gehend, um meine am Tische über ihrer Handarbeit eingeschlummerte Mutter
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