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Muensters Fall - Roman

Muensters Fall - Roman

Titel: Muensters Fall - Roman
Autoren: H kan Nesser
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1
    Der letzte Tag in Waldemar Leverkuhns Leben hätte kaum besser anfangen können.
    Nach dem nächtlichen Wind und dem Dauerregen fiel jetzt eine milde Herbstsonne durch das Küchenfenster herein. Auf dem Balkon, der zum Hinterhof ging, war das charakteristische weiche Gurren der liebeskranken Tauben zu hören und im Treppenhaus das ausklingende Echo der Schritte seiner Ehefrau, die sich auf dem Weg zum Markt befand. Das Neuwe Blatt lag ausgebreitet vor ihm auf dem Tisch, und er hatte gerade seinen Morgenkaffee mit zwei Tropfen Genever gewürzt, als Wauters anrief.
    »Wir haben gewonnen«, sagte Wauters.
    »Gewonnen?«, fragte Leverkuhn.
    »Ja, Mensch!«, sagte Wauters. »Sie haben es im Radio gesagt.«
    »Im Radio?«
    »Stell dir vor, zwanzigtausend! Es war die Fünf, und zwar keinen Tag zu früh!«
    »Das Los?«
    »Ja, natürlich das Los. Was hast du denn gedacht? Hab ich nicht gesagt, dass was in der Luft lag, als ich es gekauft hab? Hol’s der Teufel! Sie hat es geradezu rausgesucht vor mir ... als ob sie’s gewusst hätte, Frau Milkerson im Kiosk. Zwei, fünf, fünf. Eins, sechs, fünf, fünf! Die Fünfer sind es, die haben’s gebracht, glaub’s mir. Ja, ich hatte die ganze Woche schon so ein Gefühl.«

    »Wie viel, hast du gesagt?«
    »Zwanzigtausend, zum Teufel! Fünf pro Mann, ich muss noch die anderen anrufen. Wir sehen uns heute Abend bei Freddy’s, das wird ein saustarkes Fest in Kapernaum!«
    »Fünftausend ...?«, fragte Waldemar Leverkuhn, aber Wauters hatte schon aufgelegt.
    Er blieb noch eine Weile mit dem Hörer in der Hand stehen und spürte ein leichtes Schwindelgefühl. Fünftausend Gulden? Vorsichtig blinzelte er ein paar Mal, und als er wieder klar sah, fixierten seine Augen unfreiwillig das Hochzeitsfoto auf der Kommode. Das goldgerahmte. Bedächtig betrachtete er Marie-Louises rundes, milchfrisches Gesicht. Die Lachgrübchen und die Korkenzieherlocken. Ein leichter Wind im Haar. Das Funkeln in den Augen.
    Das war damals, dachte er. Damals war sie noch schön. Neunzehnhundertachtundvierzig.
    Schön wie ein Sahnestückchen! Er holte sein Taschentuch heraus und schnäuzte sich. Kratzte sich etwas gedankenverloren im Schritt. Heute sah das etwas anders aus ... aber so war das mit den Frauenzimmern ... frühe Blüte, Kinderkriegen, Stillen und dann die Schwere im Körper ... machte sie störrisch, das Ganze. Das lag sozusagen in der Natur der Sache. Ganz anders sah das bei den Kerlen aus, ganz, ganz anders.
    Seufzend ging er aus dem Schlafzimmer. Ließ seine Gedanken weiter fließen, obwohl er gar keine richtige Lust dazu hatte. In letzter Zeit passierte ihm das häufig ... Die Kerle dagegen, klar, die hielten sich viel länger in Form, das war ja gerade der Unterschied ... dieser verfluchte Unterschied. Was sich natürlich am Ende wieder ausglich, das schon ... so im Herbst des Lebens wurde es eigentlich doch ziemlich ruhig mit den Trieben, das musste er zugeben. Bei Mann und Frau.
    Was sollte man auch anderes erwarten? Zweiundsiebzig und neunundsechzig. Er hatte zwar von Leuten gehört, die mit so was noch viel länger weitermachten, aber was ihn betraf, so
war es ein für alle Mal vorbei, damit musste er sich halt abfinden.
    Das heißt, abgesehen von der einen oder anderen Zuckung, auf die er liebend gerne verzichtet hätte. Eine blasse Erinnerung an längst vergangene Tage, ein trauriges Souvenir.
    So war es nun mal. Ein Zucken. Konnte er gern drauf verzichten, wie gesagt. Er ließ sich am Küchentisch nieder.
    Fünftausend!
    Hol’s der Teufel!, versuchte er zu denken. Fünftausend Gulden! Aber es war schwer, dieses wirklich prickelnde Gefühl guter Laune zu kriegen. Was verflucht noch mal sollte er eigentlich mit dem Geld anfangen?
    Ein Auto? Wohl kaum. Klar, es würde mit Sicherheit für ein annehmbares gebrauchtes reichen, und er hatte auch einen Führerschein, aber es war jetzt zehn Jahre her, seit er hinterm Steuer gesessen hatte, und eine unbändige Lust, sich in die weite Welt zu begeben, hatte er auch nicht.
    Also auch keine Reise. Es stimmte schon, was Palinski immer sagte: Man hat das meiste gesehen und noch mehr.
    Einen besseren Fernseher?
    Dafür gab es keinen Grund. Sie hatten einen, der war erst ein paar Jahre alt, und außerdem benutzte er ihn eigentlich nur dazu, um davor einzuschlafen.
    Er trank einen Schluck und starrte die Zeitung an, ohne sie zu lesen.
    Einen neuen Anzug?
    Zu seiner eigenen Beerdigung, oder wofür?
    Nein, so auf die Schnelle gab es keine
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