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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge
Autoren: Ernst Weiß
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der Magd gesagt, sie solle bei meiner Mutter bleiben und sie nicht aus ihrem Zimmer lassen. Aber nach zwei oder drei Minuten kam meine Mutter dennoch, schwankend am Arm der Magd, zu uns und setzte sich auf mein Bett. Sie zog mir zuerst die Schuhe aus, dann die Kleider. Sie tat es so zart, daß sie meine Schmerzen nicht erhöhte. Ich hatte keinen Verband, blutete nicht. Da sie mein Hemd nicht wechselte, sah sie die zerquetschte Seite nicht. Sie schüttelte den Kopf: ich sollte nicht reden. Sie hüstelte und hielt mir meine beiden Hände fest, als wolle ich entfliehen. Mein Vater war fortgeeilt, um unserem Hausarzt zu telefonieren. Er kam in Kürze zurück, der Arzt war daheim gewesen und mußte sehr bald hier sein. Dann zog er den Unteroffizier ins Nebenzimmer, und beide fingen an zu rauchen, während der Schnauzbärtige meinem Vater eine ungenaue Darstellung des Unfalls gab. Er war kein Augenzeuge gewesen. Meine Mutter weinte nun stärker, und mein Bett bebte. Ich tat ihr sehr leid, sie überschüttete mich mit Koseworten, wie sie sie in meiner zartesten Kindheit angewandt hatte, sie streichelte mich, wollte mich bequemer lagern, bot mir alles mögliche an. Sie glaubte mir damit den Schmerz zu erleichtern, aber das Gegenteil trat ein: ich begann, mich selbst zu bemitleiden, und das Herz krampfte sich mir noch mehr in der wunden Brust zusammen, wenn ich daran dachte, was für ein armes, unglückliches Kind ich sei. Es tat mir wohl, als der nüchterne, nach Medizin riechende, in einen speckigen Gehrock gekleidete jüdische Arzt erschien, der mich im Augenblick nur flüchtig untersuchte und mir einige Fragen stellte, zuerst die, ob ich schon Wasser gelassen hätte, und zweitens, ob ich Blut gespuckt hätte. Ich schüttelte den Kopf. Er bestand darauf, daß ich meine Notdurft verrichtete. Meine Mutter bat er zu gehen, und er war mir behilflich. Er riet mir zu Geduld und ging in das Nebenzimmer, wo er ihnen allen Bericht erstattete. Bald darauf traten alle wieder bei mir ein, sprachen durcheinander, beengten den schmalen Raum, nahmen mir die Luft. Alle waren irgendwie mit meinem Unglück abgefunden und freuten sich, daß es nicht ärger gekommen war. Mein Vater und der Unteroffizier rauchten. Ich konnte nicht verstehen, daß niemand daran dachte (meine Mutter ausgenommen, die mir nutzlose Umschläge auf die Stirn machte), daß ich einen solchen Schmerz nicht auf die Dauer ertragen konnte. Aber sie dachten eben doch nicht daran.
    Ich beschreibe diesen Nachmittag, diesen Abend, diese Nacht nicht. Nachzufühlen ist eine solche Lage nur von dem, der etwas Ähnliches erlebt hat. Tröstende Worte empören nur und helfen nichts. Meine Mutter muß es begriffen haben. Nie hat eine Hand leichter auf einer wehen Brust geruht als die ihre, als sie gegen Morgengrauen einschlief. Bloß wenn sie im Schlummer hustete, drückte sie fester. Aber ich ertrug es noch, ebenso wie alles bisherige, so verzweifelt ich auch war. Und sowenig ich mir vorher einen solchen Schmerz hätte vorstellen können, so wenig konnte ich mir jetzt vorstellen, er könnte jemals ein Ende haben. Dabei schien er immer noch nicht seine letzte Furchtbarkeit erreicht zu haben, und manchmal stach mich ein Kitzel von der Art, wie man ihn hat, bevor man niest.
     
    Solange ich wach war, hatte ich genügend Kraft, um diesem schauerlichen Kitzel zu widerstehen. Der Arzt hatte mich gewarnt, ich solle möglichst wenig husten oder laut sprechen und mich ja nicht im Bett herumwerfen. Damals – es waren noch keine fünfzehn Stunden seither vergangen, und doch schien es mir ein anderes Leben zu sein, das nie mehr wiederkam, so schön! – hatte ich diese Warnung noch nicht recht verstanden. Warum sollte ich husten? Warum sollte ich mich im Bett unnötig bewegen? Aber in der Morgendämmerung, als meine Mutter, in dem alten Ohrenstuhl zusammengesunken, sich immer tiefer in friedlichen Schlaf hineinatmete, beide Hände, die zarten mit den blauen Adern, im Schoße, da trieb es mich mit aller Gewalt, der Versuchung nachzugeben.
    Besonders reizte es mich, meine Lage zu verändern. Ich lag auf der rechten Seite, also auf den fünf gebrochenen Rippen, auf den gequetschten Muskeln. Wenn ich mich ganz allmählich unter Anwendung von tausenderlei Listen umdrehte und mich auf die gesunde Seite legte, bekam ich sofort weniger Luft. Nun probierte ich es auf dem Rücken. Aber dann machte die kranke Seite, die frei mitatmete und sich bewegte, solche Schmerzen, daß ich ins Kissen biß. Also
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