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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge
Autoren: Ernst Weiß
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schwer. Er gehörte zu der zweiten Art. Er tat nur eins. Er beugte sich plötzlich über den prachtvollen Marmortisch, an dem wir bei Whisky und Likören saßen – und es kam ein unheimliches Geräusch aus seiner Gegend. Es knarrte unterm Hemd sein Korsett, das nicht für Gemütsbewegungen eingerichtet war. Helmut lächelte über seinen Vater. Ich nicht. Wir beide waren jung gegen ihn, wir waren nur grau, er aber weiß, er war 26 Jahre älter als wir. Wir alle sagten uns, wenn wir uns jetzt trennten – er mußte nach Rom zurück –, wäre es kaum wahrscheinlich, daß wir uns alle drei wiedersähen. Es war mir nämlich aus Andeutungen klargeworden, daß Helmut kein anderes Ziel hatte, als nach Spanien zu gehen, um dort auf der Seite der siegreichen Generäle zu kämpfen. Ob er lebend heimkam, daran lag ihm wenig, er hat das Leben nie sehr hoch geachtet, aber er wollte auf der Seite der Stärkeren kämpfen mit Aussicht auf Erfolg und Rückkehr in die Heimat, zurück in die Gnade des Führers, nachdem er so unheroisch gewesen war, sich H.s Gerechtigkeit durch die Flucht zu entziehen. Helmut ist wie ich nie ein Freund von vielen Worten gewesen. Er ist sich selbst immer gefolgt. Der Widerspruch in sich war ihm fremd, und fast glaubte ich, an diesem Tisch war er von uns dreien der Glücklichste.
    Kaiser wohnte in einem Hotelpalast an der Oper. Als ich mit Helmut den Boulevard zur Madeleine weiterging, kamen wir an eine hell erleuchtete Auslage. Aber in dieser Auslage waren weder Schuhe noch Seidenwäsche oder Pelze, weder Bücher noch Parfümflaschen, sondern hier gab es im Schaufenster nichts als eine Menge stark vergrößerter Fotografien, und höher oben lief eine Wanderschrift, welche die letzten Nachrichten vom spanischen Kriegsschauplatz brachte. Helmut stoppte wie ich. Wir lasen die Berichte, die Wort auf Wort in Leuchtschrift vorüberkamen. Als von einem strategischen Rückzug die Rede war, verdüsterte sich Helmuts ohnedies mürrisches Gesicht. Aber wie erhellte es sich, als er die letzten Worte der Leuchtschrift las, zu seiner Freude erfuhr er nämlich, daß nicht die Rebellen, sondern die Regierungstruppen diesen kleinen strategischen Rückzug angetreten hatten und daß die Leuchtschrift den republikanischen Bericht brachte.
    Nun war er sichtlich befriedigt, wollte mich weiterziehen und war sogar bereit, sich mit mir noch auf eine Stunde in ein Café zu setzen.
    Ich betrachtete die ausgestellten Fotografien. Nicht die Heerführer interessierten mich, nicht die in Reih und Glied marschierenden Bürgermilizen, die Bergarbeiter aus Asturien mit den offenen Hemden, sondern ich konnte mich nicht abwenden von einer mehr ins Dunkel gerückten Fotografie eines vierjährigen oder fünfjährigen armen Kindes, das von einer Fliegerbombe zerschmettert worden war und zerfetzt in seinem Blute lag.
    »Wen interessiert das schon?« sagte mein Freund. Nun war ich der Rohe und stieß ihn mit solcher Gewalt von mir, daß er auf den Fahrdamm taumelte und beinahe unter einen Autobus gekommen wäre.
    In fürchterlicher Erregung ging ich in meine Gegend, um Helmut kümmerte ich mich nicht mehr.
    Aber mit diesem Fürchterlichen war auch etwas Göttliches in mir erwacht, eine Hoffnung, eine Erleuchtung, ein Ziel und eine letzte Freude am Dasein. Ich wußte auf einmal, ich war noch nicht bei lebendem Leibe abgetötet. Ich war lebendiger als Kaiser und sein Sohn, ich wollte handeln, ich wollte wirken, mich nicht mehr in mir verzehren. ›Hilf anderen‹, sagte ich mir, ›dann hilfst du dir selbst, Gott laß beiseite.‹ Ich atmete leicht, ich ging schnell und mühelos dahin, ich stieg die steilen Straßen nach Montmartre mit Leichtigkeit wie ein zehnjähriger Junge hinauf. Ich schlief nicht, aber ich war nicht schlaflos aus Friedlosigkeit wie bisher, sondern ich mußte wachen, um alles für den nächsten Tag zu überlegen und mir den Weg genau vorzuzeichnen, wie ich es immer getan habe.
    Ich hatte für den nächsten Tag noch eine Verabredung mit Kaiser. Ich rief ihn sehr früh, zu früh an. Er konnte es nicht verstehen, daß ich an diesem Vormittag keine Zeit hatte, ich konnte es nicht verstehen, daß ihm Katinka und die Schöne mit den Onyxaugen und seine historisch-psychiatrischen Studien wichtiger waren als das, was ich ihm hatte mündlich sagen wollen. Ich hatte daran gedacht, er solle mit mir nach Spanien gehen. Ob er dort unten starb oder ob ihn der Tod inmitten seines parfümierten Palastes in Rom ereilte, – ich hätte nicht
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