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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge
Autoren: Ernst Weiß
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Still jetzt! Wecke sie nicht auf!«
    Der Tag des Dienstantritts meiner Frau kam heran. Ich half den dreien beim Einpacken ihrer Habseligkeiten, begleitete sie aber nicht nach Versailles. Ich machte nachher aufatmend in meinem Zimmer Ordnung und tat das Bett meines Sohnes auf den Korridor. Ich empfand es als sehr gut, daß ich von jetzt an allein leben konnte. Ich hatte den Frieden noch nicht, aber doch Ruhe. Ich schränkte mich noch mehr ein. Die 30 Mark, die ganz regelmäßig von daheim kamen, reichten knapp aus, da ich genug Essen in der Emigrantenküche erhielt. Ich hatte mich an die Arbeit dort gewöhnt und etwas erlernt, was ich früher niemals gekonnt hatte: ich hörte die Menschen wohl reden, aber versperrte mich dagegen mit solcher Kraft, daß es mir war, als schwiegen sie oder es rollte ein Automobil vorbei oder es zischte der Gasherd. Ich war nicht blind geworden wie er , sondern taub.
    Meine Frau gab mir bald gute Nachricht. Die Arbeit war nicht einfach, aber die Umgebung herrlich, die Leute hatten zwei Autos, drei Badezimmer, ›unsere Lise› hätte sich mit der ›kleinen Prinzessin‹, der Tochter des Hauses, angefreundet und ihr eine ›formidable Frisur‹ gemacht, ihr freilich dabei viele Haare ausgerissen. Von meinem Sohn schwieg sie, ich fragte nicht. Ich begann, mich körperlich etwas zu erholen, die Striemen am Rücken wurden flacher und blasser. Verschwunden sind sie nie. Manchmal dachte ich, Kaiser würde nie mehr kommen, und wenn er käme, mich nicht mehr erkennen. Beides war falsch. Er kam im Sommer 1936, diesmal ohne Katinka, zu uns, Helmut und mir, er dachte nicht daran, bald zu sterben.
    Tatsächlich war aber Geheimrat Dr. Gottfried von Kaiser ein Wunder. Ein schöner alter Mann, sehr aufrecht sich haltend (dank einer kunstvoll zwischen Haut und Hemd angebrachten Bandage), reiches, schneeweißes Haupthaar, ebensolchen Vollbart, die Augenbrauen jedoch kohlschwarz, mit gemessenen Bewegungen, von einem englischen Schneider in Vollendung angezogen, würdig und bezaubernd in einem, von dem feinsten, etwas bitter-aromatisch duftenden Parfüm wie von einer Götterwolke umgeben, auf der Höhe seines Geistes, voll neuer Pläne und Gedanken, gleichgültig auf unseren Jammer, unsere Freuden herabsehend, alles genießend, alles betrachtend, alles verachtend, so erschien er in unserer Mitte und stellte seinen Lieblingssohn Helmut und mich, seinen Lieblingsschüler, in den Schatten. Er war ungebrochen, er hatte sich längst von den Ketten befreit, an die ihn Katinka geschmiedet hatte, und sprach von ihr mit Gerechtigkeit. Im übrigen war sie ihren Jahren entsprechend etwas stark geworden, und er nannte sie im Gespräch bald Püppchen, bald Dickerchen. Er war auf der Suche nach einem Parfüm, das ihr neu war, und schleppte mich und Helmut in seinem großen, ebenfalls schneeweißen Auto, einen kohlschwarzen Neger in weißer Sommerlivrée am Volant, von einer Schneiderfirma zur andern mit der Behauptung, daß es nun die Schneiderfirmen und nicht die Parfümfabrikanten seien, welchen die aufregendsten Düfte zu verdanken wären. Nachdem er einen entsprechenden Vorrat eingekauft hatte, ging es zu den Juwelierläden auf der Place Vendôme, und ich, dem 100 Franc ein Vermögen waren, sollte ihn bei der Wahl eines Smaragds oder Rubins oder einer schwarzen Perle im Werte von ein paar Zehntausend beraten – und tat es, nach bestem Wissen und Gewissen.
    Ich begleitete ihn in die Vorstadt Vincennes, wo er im Museum des Weltkrieges für seine ›historisch-psychiatrischen Studien‹ sammelte. Es machte ihm Freude, an diesen Armeebefehlen, Zeitungsausschnitten und anderen Dokumenten die Merkmale des Einzelwahnsinns und des Massenwahns zu studieren. Er war alt und weise geworden. Längst hatte er es aufgegeben, Menschen heilen zu wollen. Er erfaßte sie in ihrem Wesenskern, fand Neues zu dem Altbekannten, und des Lernens war kein Ende. Statt der anatomischen Gehirnschnitte studierte er einen Querschnitt durch das Europa zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Wie gerne hätte ich ihm den kleinen Beitrag zur Geschichte des mächtigsten Mannes unserer Zeit gegeben, den mir das Schicksal oder der Zufall 1918 in die Hände gespielt hatte. Nicht in meine Hände gehörte dieser Bericht. Meine Hände hatten Unheil bewirkt. Ich hatte in meiner vermessenen Gottähnlichkeit einen Blinden sehend gemacht, ohne ihm regelmäßigen Schlaf, das heißt Frieden der Seele, zu geben. Er schlief nicht, und ebenso wie im Reservelazarett
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