Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge
Autoren: Ernst Weiß
Vom Netzwerk:
in P. ließ er keinen schlafen. Nur daß er damals ein Mannschaftszimmer in Erregung versetzt hatte, heute hingegen einen ganzen Erdteil.
    Viel klarer als ich hat es mein Meister erfaßt, daß die wahrhaft aufrüttelnden und siegreichen Führer der Menschen immer Irre gewesen sind. Ihr Haß war nicht ohnmächtig, sondern zeugte. Ihre Lüge fiel nicht in sich zusammen, sondern formte alles Leben ringsum, wie es der Glaube formt.
    Kaiser war so weit gekommen, nicht mehr zu hassen und zu lieben. Ihm war wohl, denn er hoffte und fürchtete nichts mehr. Er hatte nur vor dem Sterben, das heißt vor Leiden, Angst, nicht vor dem Tod. Mußte er denn nicht den Frieden gewonnen haben, seitdem er sich von allem Menschlichen gelöst hatte, dankbar war für den schönen Abend und das Ende nicht fürchtete?
    Er nahm die gesamte Geschichte unseres unglücklichen Vaterlandes mit der wahren Objektivität des Gelehrten zur Kenntnis.
    Ich hatte der Augenzeuge sein wollen, er war es. Denn er liebte nicht. Seine Liebe zu Katinka (der einzigen Frau, der er jemals wahrhaft angehört hatte und in der sich ihm Liebe als Knechtschaft enthüllt hatte) war längst erloschen, seitdem er gelernt hatte, nicht nur die ›Püppchen‹, sondern auch sich zu durchschauen. Als ein zweiter, weniger feudaler, aber auch weniger verbitterter La Rochefoucauld trat er mir entgegen, unsterblich in seiner wiedergewonnenen Klarheit. Allen erreichbaren Genüssen zugetan, sich vor der Schönheit einer neuen Katinka beugend (deren Namen er nicht verriet, sondern von der er nur die ›großen Onyxaugen‹ rühmte und irgendwelche berauschenden Geheimnisse ihres Körpers) – so stand er über meinem Ideal des Friedens, des Rechtes, indem er forschend und genießend den Mut bewies, sich in einer anarchischen Welt genauso hart und gleichgültig zu zeigen, wie es die Welt geworden war, und so hatte er die Kraft, die Barbaren von außen an die Wände seines Turms hämmern zu lassen, ohne ihnen zu öffnen.
    Sein Glück wäre vollständig gewesen, wenn ihm zwei scheinbar leicht zu verwirklichende Wünsche erfüllt worden wären. Er hatte vorgehabt, uns beide mit sich nach Italien zu nehmen. Weshalb gelang es ihm bei Helmut nicht? Waren es die ›Freunde‹ Helmuts, die ihn an Paris fesselten? Ich konnte es nicht glauben. Menschen dieser Veranlagung gibt es überall. Es war etwas anderes. Helmut hatte eine Art dickköpfiger Stecknadel im Knopfloch seines Jacketts. Man mußte schon sehr scharf hinsehen, um in dem Silberornament ein winziges Hakenkreuz zu erkennen. Helmut war also weniger der Sohn seines göttergleichen Vaters als vielmehr der Jünger seines Heilands H. Er hatte ihm das Blut R.s verziehen – und wartete nur darauf, daß H. ihm verzieh und ihm die Rückkehr ins herrliche Dritte Reich gestattete. Und ich? Ich fühlte, es mußte sich etwas ändern. Aber nicht durch den Göttergreis. Kaiser war die Vergangenheit für mich, eine herrlich entfaltete Vergangenheit. Aber er befreite mich nicht, gab mir den Frieden nicht.
     
    Als mich von Kaiser besuchte, war der große Kampf in Spanien zwischen der republikanischen Regierung und den rebellierenden Generälen schon im Gange. Diese Generäle hatten die Armee, einen großen Teil der Flotte hinter sich, sie standen unter dem Schutz Deutschlands und Italiens. Sie hatten die Hilfe der hohen Geistlichkeit und der Großgrundbesitzer, während die Masse des Volkes und die niedere Geistlichkeit auf seiten der Republik waren. Von beiden Seiten wurde der Kampf mit der furchtbarsten Heftigkeit geführt. Die Republik besaß keine Flugzeuge, die Rebellen erhielten solche in Unmassen von Deutschland und Italien. Die Rebellen hatten Mangel an Menschen und holten sich Mauren und schwarze Berber in das katholische Land, auch protestantische Söldner fehlten ihnen nicht. Die rebellischen Truppen gingen mit ungeheurer Schnelligkeit gegen Madrid vor. Die Hauptstadt des Landes war von fast allen Seiten eingeschlossen, ihr Fall und damit der Untergang der Republik schien nur eine Frage von Tagen zu sein. Anfang September fiel die Grenzstadt Irun in die Hände der Rebellen, und es folgten entsetzliche Szenen des Mordens, Brennens, der entfesselten Unterseele, gegen welche die Schrecknisse des Weltkrieges verblaßten.
    Eines Abends hatten Helmut und ich Abschied von Kaiser genommen. Er hatte seine Bitte, wir sollten mit ihm nach Rom fahren, nun nicht mehr wiederholt. Er weinte nicht. Ich glaube, Greise weinen entweder sehr leicht oder sehr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher