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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge
Autoren: Ernst Weiß
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unmenschlich geschlagen worden ohne Grund, diesen drohte eine harmlose Züchtigung, sie hatten, wie ich später erfuhr, viel schmerzlichere Strafen in der neuspartanischen Schule auszuhalten gehabt. Und doch, zu meiner Schande muß ich es jetzt gestehen, nun bereute ich, daß ich unlängst bei dem Teich im Luxembourg wieder Mut gefaßt und meinem Leben nicht in der nahe vorbeifließenden Seine ein Ende gemacht hatte.
    Ich tat aber jetzt das Notwendige. Ich warf mich vor die Kinder, fing selbst die paar Schläge und Püffe von den kleinen Fäusten Viktorias auf und – lachte aus vollem Herzen. Ich lachte, als mir meine Frau mit den Nägeln ins Gesicht fahren wollte. Ich lachte, als die Kinder wie aus einem Munde riefen: »Hilf uns! Von einer Jüdin brauchen wir uns nichts gefallen zu lassen! Hilfe! Hilfe!« Ich lachte, als meine Frau in ihrem sinnlosen Zorn schrie, sie sähe wohl, zu wem ich hielte, sie wolle mit einem Judenhasser nicht mehr unter einem Dach hausen und ›kenne ihre Kinder nicht mehr‹. Ich lachte, da ich mich der gleichen Worte entsann, die meine selige Mutter ausgerufen hatte. Ich lachte den Kindern zu, die völlig überrascht waren, welche wahrhaft ›komische‹ Wendung diese deutsche Schlacht im französischen Hotelzimmer genommen hatte.
    Aber ich wußte auch den Weg, meinen Sohn zu heilen. ›Du bist doch ein tapferer kleiner Kerl‹, wandte ich mich fragend an ihn, wie mich einmal sein verstorbener Großvater gefragt hatte. Aber ich stellte ihm diese Frage nicht, um ihn gegen ›Schmerzen und Leiden‹ abzuhärten und ihn zum Spartaner zu machen, sondern um ihn durch den Augenschein, die direkte Methode des Anschauungsunterrichtes dazu zu bringen, den Schmerz zu achten. Er sollte heute anfangen, die zu verachten, die in ihrer Brutalität einen wehrlosen Menschen durch Torturen tiefer erniedrigten als das Tier. Ich wußte wohl, der Führer in seiner ganzen Sentimentalität hatte tierfreundliche Gesetze erlassen, Schonung der Hunde, kein Schächten der Rinder mehr, Humanität den Tieren gegenüber. Wie sehr hatte das auf das naive Gemüt von Robert und Lise und so viele Millionen anderer Kinder eingewirkt. Nun zog ich den Jungen ins Nebenzimmer, sperrte ab und entkleidete mich. Ich schämte mich vor ihm nicht wie vor Helmut. Ich behielt nichts an. Ich sprach kein Wort. Man kann ohne Worte auf Menschen oft viel besser wirken. Die wortreichen Lehren sind oft Betrüger.
    Ich zeigte ihm, mich langsam im Kreise drehend, meinen Rücken, meine Lenden, meine Beine bis zu den Fersen. Ich nahm seine Hand und ließ ihn die noch feuchten, bei jeder Erregung rot und dick anschwellenden Striemen befühlen. Ich sagte ihm nicht, das hat man mit deinem Vater gemacht. Ich sagte ihm nicht, dein Vater ist ... Genug. Er brach in Tränen aus. Ich sagte ihm, er solle nicht weinen. ›Weinen verboten!‹ Er solle sich jetzt die Hände und das Gesicht waschen, zu meiner Mutter und Schwester zurückgehen und tun, was seine Pflicht sei. Er tat es. Er schwankte etwas beim Gehen, der stämmige, kräftige Junge mit seinem einen Viertel Judenblut, aber er ist immer ein energisches Wesen gewesen, so wie auch ich als Kind es gewesen bin. Er bat seiner Mutter ab. Er nahm die Schwester beiseite. Von jetzt an ließen sie sich besser erziehen. Kein deutscher Gruß mehr. Sie spotteten nicht mehr über das schöne Gastland. Es hat aber lange Zeit gedauert, bis sie die lateinischen Lettern schreiben gelernt haben.
    Sie lernten sehr spät Französisch schreiben, und sie schrieben es, soweit ich es beurteilen kann, niemals fehlerfrei. Aber sie sprachen es in kurzer Zeit fließend. Am besten sprach Lise, dann kam Bobby, dann meine Frau, zuletzt ich. Ich hatte den größten Wortschatz und die feinste Unterscheidung, aber die schlechteste Aussprache. Ich habe mir große Mühe gegeben, mich zu vervollkommnen, gelungen ist es mir nie.
    Wir hatten eine große Verantwortung auf uns geladen, als wir die Kinder hatten kommen lassen. Ich wußte nicht, wieviel Geld meine Frau besaß und ob jetzt die stärkste Quelle, nämlich Helmuts Sendungen, versiegte. Ich wollte es wissen, denn noch war ich das Haupt der Familie. Ich bat eines Abends, als ich spät heimgekommen war, meine Frau, mit mir in ein kleines Café an der Ecke zu gehen. Sie stand aus dem Bett auf, warf etwas um, deckte Lise, die mit ihr im gleichen Raum schlief, besser zu, und wir gingen. Ich sagte meiner Frau noch auf der Treppe, wie es mit meinen Einnahmen stünde. Die Treppe war
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