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Ich bin schizophren und es geht mir allen gut

Titel: Ich bin schizophren und es geht mir allen gut
Autoren: Dirk Bernemann
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Weiterentwicklung hindert, denn hier sind zu gleichen Teilen Tradition und Moderne am Start und machen einander das Leben unbeweglich.
    Aber diese Hässlichkeit, diese unumstößliche Arbeiterantischönheit, in der ich zu Hause bin, die wärmt mich wie ein Stahlofen. Darin kann ich ihn weiden, meinen Blick, mein Sein. Die Bahnstrecke, die uns bevorstand, war die von Münster nach Hagen, es sollte also durch münsterländische Natur Richtung stinkenden Ruhrpott gehen. Im Münsterland geht es ja noch, da lohnen sich noch die Blicke aus dem Fenster, da sind noch gesunde Bäume, die sich am Gleisrand aufhalten. Aber je näher man diesem Hagen kommt, umso kälter und böser wird die Atmosphäre. Ich trug eh grad die sogenannte "Melancholie des Bilanzziehens" mit mir rum und da passte diese Strecke gut zur Verfassung meines Gemüts. Außerdem war es bereits weit jenseits der Dämmerung und die Dunkelheit schluckte das Meiste der Hässlichkeit da draußen.
    Er lud mich wieder ein mitzufahren, und ich sagte zu, weil da in dieser Nacht nichts war, niemand war, der nach mir rief. Also saß ich etwas später im Maschinenraum einer Elektrolok und erkundete eine der hässlichsten Bahnstrecken Deutschlands, Münster- Hagen. "Der Ausstieg befindet sich in Fahrtrichtung links", das sagte er voll oft und dann öffneten sich schreiende Türen und spuckten Leute ins Freie oder sogen welche auf, die sich fröstelnd ins Innere des Zuges kauerten.
    Dort saßen sie dann, zusammengefaltete Leben, und wurden durch die Nacht gewuchtet, vorne im Zug er und ich und Zigaretten und zunächst wenige Worte. Er wusste um meinen Zustand, ich wusste um meinen Zustand, mein Zustand war kein Zustand von Dauer, wenn ich überleben wollen würde. Ich war gefangen in einer Art Emotionsknast. Jede Bewegung tat weh zu der Zeit, weil ich in jemanden verliebt war, der ich egal war. Schlaue Kinder gehen einfach weg, doofe Kinder rennen ins offene Messer der Beschleunigung, Kinder, die runterkommen wollen und sich nicht mehr um die Klinge drehen wollen, auf der sie ohnehin schon aufgespießt sind, fahren mit dem besten Freund durch die Nacht. Bahn. Jawoll, Bahn.
    Da fuhren wir also, Geräusche hinter uns aus dem 8.000-Volt-Maschinenraum, Geräusche, wie man sie sich innerhalb eines Panzers vorstellt. Rotierend, die Maschine mit einer gewissen Grundaggression ausgestattet. Und dann dieser Maschinenraum, der ein wenig aussieht wie der Hauptdrehort zum Film "Das Boot". Man könnte sich hier prima Klaus Wennemann, Jürgen Prochnow und Herbert Grönemeyer durch diesen Raum rennend vorstellen, wie sie sich anbrüllen, wie sie ihren Unterwasserkoller leben, wie sich leichte Noten Wahnsinn einschleichen. Und der Raum tobt. Er entlüftet, belüftet, atmet, die Maschine schreit die ganze Zeit in einer extremen Lautstärke, die man aber nach etwa zehn Minuten Streckenkunde nicht mehr wahrnimmt, weil man sonst verrückt werden würde.
    Da fuhren wir also. Monotones Klackern unter uns. Rattat, rattat, rattat, usw. Es war Nacht, die Lok fuhr irgendwas zwischen 140 und 160 und wir sprachen in aller Ruhe über Selbstmörder, die sich gern vor solche Züge werfen, und wo man die Reste findet, die von solchen Menschen übrig bleiben. Auch an diesem Zug, so erläuterte mir mein Freund, da wurden schon kleine Hände und abgerissene Arme gefunden, aber auch Köpfe von Rehen oder komplette Habichte, abstrakt entstellt zu einem Haufen Genetik, der einfach nicht mehr fliegen mag. Er selbst, so sagt er, habe aber noch keinen Menschen mittels Lok aus dem Liebreiz des Lebens gezerrt.
Rattat, rattat, rattat ...
    Suizid. Schweigen. Wir rauchen. Das ist verboten hier drin. Wir rauchen verdammt viel. Ich starre auf die Schienen. Monotones Klackern. Wir sind in einer Geschwindigkeitsmaschine. Suizid. Schweigen. Raucherabteile gibt es nur noch vorne in der Personalkabine. Im Führerhaus. Im Maschinenraum, wo voll gemeine 8000 Volt ein Lied vom Transport singen. Er hat das schönste Hobby der Welt: Eisenbahnfahren, Einsambahnfahren.
    Ich war ja auf der Suche nach Wohlbewiederfinden und wir sprachen in einer Ruhe über all das, über das Gefühlsleben von Männern um die dreißig. Mit Potenzproblemen, Vollglatzen und anderen Dingen, die einfach am Menschen kaputtgehen, rechnen wir erst in ungefähr hundert Jahren. Wir reden über uns. Wir, die Menschen, wir, die Freunde, wir, die Gesichter, die mal wieder Abwechslung und Luft brauchen, um in geregelter Taktung atmen zu können. Und doch haben wir
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