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Ich bin schizophren und es geht mir allen gut

Titel: Ich bin schizophren und es geht mir allen gut
Autoren: Dirk Bernemann
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beide so oft das Gefühl, nicht aufstehen zu mögen, weil wir eh am Boden kleben und die Schwerkraft doch immer gewinnt. Oder aber, und das nennt nur er als Grund für sein Aufstehen: "Die Bahn fährt nicht ohne mich!", Zitat Lokführer. So verschieden sind wir grad und doch auf der Ebene einer bittersüßen Verständlichkeit.
    Ich blicke wieder schweigend auf die Gleise vor uns. Das Frontfenster, draußen angedeutet: Frost.
    Die Natur mag sich auch bald verabschieden in eine Art Winterschlaf, auf den ich ja auch jedes Jahr Lust hätte. So lange schlafen, bis man mit den Blumen aufstehen kann. Krokusse, Osterglocken, Grashalme. Alles soll wachsen in einer unumstößlichen Hoffnung. Aber jetzt kommt erstmal der Winter. Und erst dahinter, hinterm Winter: Frühling. Zeit vergeht und verkommt und wir warten und fahren solange mit der Bahn nach Afghanistan. Oder nach Hagen, ist ja so ähnlich.
    Der Mond säuft ab, nur eine Sichel, ein Sparmond, der zwischen Wolken ertrinkt und Sterne kotzt. Der Achtelmond macht schlapp. Er taucht ein in die Wolken und draußen stehen: hässliche Bahnhöfe, bevölkert mit hässlichen Nachtreisenden. Ich sehe auf einem Bahnsteig zwei Gehörlose angeregt "plaudern". Es wirkt aggressiv, ich glaube, sie streiten, könnte aber auch sein, dass sie Gedichte von mir rezitieren. Ein alter Mann ist eingeschlafen auf einer Bank, während er auf den Zug gewartet hat. In seiner Hand eine Flasche Billigkorn. Ein Gruftimädchen ist betrunken und fällt mit dem Gesicht voran aufs Pflaster. Sie steht auf, sie weint, hat sie jemals was anderes gemacht? Weiterfahren, 160 km/h, vorbei an Unna.
    Schwerte, Überdosis Schwerte. Kurz vor elf gibt es immer noch unnatürliche Industrie am Rangierbahnhof. Da wuchten noch Kräne irgendwelche Lasten auf irgendwelche Güterzüge, und was dann passiert, nennt sich Transport oder Güterverkehr. Wir fahren, rauschen vorbei an irgendwelchen Bahnhöfen, ausdruckslosen Gesichtern. Schließlich sprechen wir immer weniger. Schließlich sind wir in Hagen und gönnen uns Proletariernahrung. Das hat ebenfalls mit der Romantik dieses Abends zu tun. Schlecht ernährt steigen wir wieder ein.
Proletariernahrung: lecker is something else.
    Ich sehe mich um und erkenne die Gewissheit der Schlechtigkeit an diesem Ort: Hagen ist voller Hass und schlechtem Sex und der Bahnhof repräsentiert das. Wer diesen Bahnhof kennt, hat ein Scheißleben. Ich bin glücklich, als wir weiterfahren, und fühle mich ein bisschen wie ein Kind, das einen Umsonstgutschein in der Achterbahn gewonnen hat. Wieder schießen wir durch die Nacht. Zurück nach Münster.
Wer diesen Bahnhof kennt, hat ein Scheißleben.
    Schwerte, Unna und so weiter, Bahnhöfe, über die man nur traurige Lieder schreiben kann.
    Ich will aber nicht mehr traurig sein und so schaue ich nach vorn, in die Dunkelheit. Monotones Klackern unter uns: rattat, rattat, rattat ... Wie kann so etwas Banales nur so glücklich machen ... Wir sehen uns etwas zu lang in die Augen und wenn wir schwul wären oder einer von uns eine Frau wäre, wir hätten jetzt auf diesen Zugkontrollinstrumenten den Sex unseres Lebens. Aber wir fahren weiter und schweigen. Rauchen. Schweigen. Blicke raus, durch die Scheibe, rattat, rattat, rattat ...
    Wir kommen zurück nach Münster und er beendet seine Schicht, zuvor parkt er die Lok noch auf einem Abstellgleis. Das ist auch ein unschönes Wort aus dem Eisenbahnerjargon. Das Abstellgleis. Ich sehe eine rückwärtsfahrende Lok, die sich auf das Abstellgleis schleicht. Nur schemenhaft, es ist ja immer noch sehr dunkel. Dann betrachten wir noch die heutige Beute, soll heißen, er leuchtet mit der Taschenlampe die Zugfront durch und guckt, was er so alles an Klein- und Großtieren unbemerkt erlegt hat. Eine Taube oder vielmehr das, was davon noch übrig ist, ist dort ans Metall geklatscht worden. Sie ist das einzig erkennbare Opfer dieser Nacht. Ihr Federkleid hat sie ausgezogen, die gute Taube, und so hängt sie als Mahnmal am Zugfrontteil. Das machen andere weg, sagt er, dafür gäbe es wirklich gute Hochdruckreiniger, die den Taubenklumpen wegspülen.
Taubenklumpen am Zug, vollkommen flugunfähig.
    Wir gehen schweigend und rauchend zu meinem Auto. Ganz langsam. "Wenn die Nacht am tiefsten ist, dann ist der Tag am nächsten", so sangen einst Ton Steine Scherben und genau dieses Gefühl ist gerade präsent. Dunkelschwaden hängen überall, und es ist eine Kälte zugegen, die uns schleunigst in die Betten treiben will. Es
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