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Im Auftrag der Väter

Im Auftrag der Väter

Titel: Im Auftrag der Väter
Autoren: Oliver Bottini
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PROLOG
    BRAHMS WECKTE IHN , das Requiem, eine Woge ferner, dunkler Stimmen, die aus dem Obergeschoss ins Wohnzimmer herunterdrangen. Gähnend tastete Paul Niemann nach seiner Brille und setzte sie auf. Drei Uhr nachmittags, es regnete noch immer, der Garten lag halb verborgen im nebligen Grau. Wohin man sich auch drehte in diesen Tagen, das Leben endete nach dreißig Metern an einer Wand aus Regen und Nebel. Brahms-Wetter, dachte er und erhob sich, das schon, aber doch nicht, wenn man erst fünfzehn war ...
    In der Diele blieb er am Treppenabsatz stehen und lauschte.
Denn wir haben hie keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir
... Was bewog einen vollkommen unmusikalischen Fünfzehnjährigen, ein Requiem zu hören?
    Er ging in die Küche, nahm die Kaffeekanne von der Warmhalteplatte, schenkte sich eine Tasse ein.
    Dann stand er, die Tasse in der Hand, an der Wohnzimmertür, summte das Bariton-Solo mit, blickte in den Garten hinaus. Die Thujenhecke entlang des Zauns verschwand im Nebel, der Weißdorn und die Linde lagen unsichtbar in einer fernen Welt.
    Der goldene Oktober, abgesoffen in Regen und Grau ...
    In München waren Regentage erträglicher gewesen. Lichter. Nicht ganz so unerbittlich.
    Geräusche hinter ihm holten ihn aus den Gedanken.
Eine Wolke kühlen Parfüms, dann Carolas Stimme, schon von der Haustür her: »Wartet mit dem Essen nicht auf mich, Papa.«
    Er drehte den Kopf, sagte nichts, die Tür war bereits zu.
    Manchmal hätte er Carola gern festgehalten, wenn sie sich für Sekunden in seiner Reichweite aufhielt. Falls jemand formulieren konnte, was mit ihm, mit der Familie geschah, dann sie.
    Sag mal, Caro, was denkst du so? Über uns vier? Ich meine ...
    Er wusste nicht, was er meinte.
    Er setzte sich an den Couchtisch vor dem breiten Fenster, trank Kaffee, dachte an München, an die Abende mit Henriette und dem Chor der Lutherkirche, an helle, freundliche Regentage.
    Eine andere Welt, ein anderes Leben.
    Und jetzt? Der Sohn abgeschottet von der Menschheit mit einem Requiem, die Tochter immer geisterhafter, immer flüchtiger, die Mutter unterwegs, ohne dass man erfahren hätte, wohin oder bis wann, und der Vater ...
    Der Vater.
    Er beugte sich vor, schaltete die Stehlampe ein. Licht half gegen das schwere Breisgauer Grau.
    Sag mal, Caro, was denkst du so über mich? Ich meine ...
    Er schüttelte den Kopf, griff wieder nach der Tasse, hielt inne. Draußen, im Garten, hatte sich etwas verändert. Der Nebel schien in Bewegung geraten zu sein, und für einen Moment glaubte er den dunklen Stamm der Linde zu erkennen. Dann schloss sich der Nebel wieder, der Stamm verschwand.
    Er trank einen Schluck, lauschte der Musik. Vielleicht
meinte er die Wut, die manchmal in ihm tobte und nicht hinauskonnte, weil ihm keine Wörter und Gesten einfielen, mit denen er sie hätte ausdrücken können. Oder die Langeweile, die ihn manchmal überkam, egal, was er gerade tat.
    Langeweile, Müdigkeit, Unlust.
    Als er die Tasse auf den Tisch stellte, brachen die dunklen Stimmen plötzlich ab, und es herrschte Stille. Die bedrückende, zeitlose Stille der Merzhausener Wochenenden, wenn die beiden Frauen fort waren und die beiden Männer nicht wussten, wohin mit sich ...
    Er nahm die Brille ab, rieb sich die Augen. Vielleicht sollte er aufhören, so oft an München zu denken.
    »Papa?«
    Er setzte die Brille wieder auf und wandte sich um. Philip stand in der Tür, die Hand an der Klinke, blass, picklig, schmal. Sag mal, Caro, was denkst du so, ich meine, wegen Philip. Er ist so ... Er kommt mir so ...
    »Im Garten ist jemand.«
    »Hm?«
    »Ich glaub, ich hab im Garten jemand gesehen.«
    »In unserem Garten?«
    Schweigend blickten sie in das Grau hinaus. Doch da waren nur der Regen, der Nebel, ein Stück Thujenhecke. Und irgendwo, weit entfernt und unsichtbar, die Linde und der Weißdorn, den er aus München mitgebracht hatte.
    »Ich sehe niemanden, Philip.« Er drehte sich wieder zur Tür. Dachte an Brahms, die drängenden Stimmen des Chors, was diese Stimmen auslösen mochten im Kopf eines Fünfzehnjährigen.
    Philip zuckte die Achseln. Die Schultern verkrampft, der Mund verspannt, wenn er nicht wusste, wie er stehen und schauen sollte, wie er war ... »Ich dachte, da ist jemand.«
    »Vielleicht die Mama?«
    »Die kommt doch erst heute Abend.«
    Er nickte, signalisierte: Natürlich, hatte ich vergessen, die kommt ja erst heut Abend. Doch er spürte, dass Philip ihm die kleine Scharade nicht abnahm. »Dann weiß
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