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Im Auftrag der Väter

Im Auftrag der Väter

Titel: Im Auftrag der Väter
Autoren: Oliver Bottini
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durch
das Fenster von der Straße herein. Er lauschte atemlos – nichts.
    Philip lag in seinem Bett und schlief. Das Display des CD -Players leuchtete, Dioden bewegten sich. Da waren sie wieder, die Stimmen vom Nachmittag, so leise, dass er sie fast nicht hörte. Brahms’
Deutsches Requiem
, die ganze Nacht lang. Er schaltete den CD -Player aus.
    Henriette schlief unruhig, gab einzelne, leise Laute von sich. Ohne seine Decke kam sie ihm in dem Ehebett klein vor. Schutzlos und ausgeliefert. Momente, in denen auch sie das Leben nicht im Griff hatte.
    Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Philips Tür öffnete sich.
    Philip, mit kleinen Augen blinzelnd, in Unterhose und T-Shirt.
    Er legte den Zeigefinger an den Mund, schloss die Schlafzimmertür. Als er fragend auf Carolas Tür deutete, zuckte Philip die Achseln.
    Carola lag nicht in ihrem Bett. Kopfkissen und Decke waren in eine Ecke geschoben und eingedrückt. Da Carola zu schlampig war, um das Bett zu machen, wusste er nicht, ob sie heute Nacht schon darin gelegen hatte. Ob sie überhaupt zu Hause gewesen war.
    Er bedeutete Philip, ihn nach unten zu begleiten.
    In der dunklen Diele sagte er: »Weißt du, wo sie ist?«
    Philip schüttelte den Kopf.
    Er hastete ins Wohnzimmer zum Telefon. Er hatte zu schwitzen begonnen, roch den Schweiß, roch die Angst. Nicht Carola, dachte er, während er ihre Handy-Nummer wählte. Bitte, Herr im Himmel, lass mit Carola alles in Ordnung sein ...
    Sie ging sofort dran. Sie stand in der Kaiser-Joseph-Straße
in Freiburg, wollte sich gerade auf den Heimweg machen. Mit sechzehn, nachts um halb drei, dachte er, aber das war jetzt nicht wichtig.
    Er bat sie, bei einer Freundin zu schlafen.
    »Wieso das denn? Ist was passiert?«
    »Nein, nein, mach dir keine Sorgen.«
    »Habt ihr gestritten?«
    »Aber nein, Caro ...«
    »Ist die Mama weggegangen?«
    »Was? Nein, sie ist nicht weggegangen, sie ist hier, Caro, es ist alles in Ordnung, es ist nur so ...« Rasch erzählte er: Ein Penner in ihrem Garten, und vielleicht lief der noch in der Gegend rum. Deshalb. Schlaf heute bei einer Freundin. Geht das?
    »Ja. Klar.«
    Er legte auf.
    Ist die Mama weggegangen.
    Philips Blick lag auf ihm, ein Blick im Halbdunkel. Schweigend sahen sie sich an.
    »Ich denk mir nur, falls er noch in der Gegend rumläuft.«
    Philip nickte.
    Sie kehrten in die Küche zurück, setzten sich an den Esstisch. Im grellen Licht der Küchenlampe wirkte Philips Gesicht krankhaft blass. Die roten Pickel schienen zu glühen.
    Ist die Mama weggegangen.
    Er stand auf. Die Kellertür, er musste die Kellertür kontrollieren. Philip nickte.
    Die Kellertür war verschlossen, der Schlüssel steckte. Hatte er sich getäuscht? Hatte ihn die Angst getäuscht?
    Er kehrte in die Küche zurück. »Vielleicht sollten wir wieder ins Bett gehen.«
    »Mhm.«
    »Ich meine, du ins Bett und ich aufs Sofa.«
    Philip deutete ein Lächeln an, während er aufstand. »Nacht, Papa.«
    »Gute Nacht, Philip.«
    Er setzte sich, lauschte auf Philips Schritte in der Diele, auf der Treppe. In seinem Kopf schoben sich schmerzhafte Sätze ineinander – ist die Mama weggegangen, vier Jahre schon, erst vier Jahre ...
    Er ging in den Vorraum, steckte seinen Schlüssel ins Schloss der Haustür, kehrte ins Wohnzimmer zurück, das ihm kalt und stumm vorkam. Als er auf dem Sofa lag und die Bettdecken über sich zog, dachte er, dass er nicht wieder würde einschlafen können, mit diesen schmerzhaften Sätzen im Kopf und dem einen, der dahinter lauerte: Er ist da, er ist wieder da.
     
    Aber er musste doch eingeschlafen sein, denn irgendwann später erwachte er, weil andere Sätze in seinem Kopf waren, Sätze oder Wörter, deren Bedeutung er nicht kannte, Sätze und Wörter aus einem Traum vielleicht, aber sie waren noch zu hören, nachdem sich sein Bewusstsein langsam und schmerzhaft vom Schlaf ins Wachsein gequält hatte – Sätze und Wörter einer fremden Sprache, geflüstert von einer fremden Stimme aus der Dunkelheit.
    Er richtete sich auf. »Herr im Himmel ...«
    »Schhh«, machte die Stimme sanft und sprach weiter, und wieder verstand er nichts, eine osteuropäische Sprache, Slawisch, vielleicht Russisch, es klang weich und fast zärtlich, beinahe wie ein Totengebet, als müsste er mit diesen fremden Wörtern aus der Dunkelheit sterben.
    »Herr im Himmel, bitte ...«
    »Schhh ...«
    Er wollte schreien, aber in seinen Lungen war wieder zu viel Luft, und so tat er nichts, atmete nur, und sein Atem ging immer
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