Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Auftrag der Väter

Im Auftrag der Väter

Titel: Im Auftrag der Väter
Autoren: Oliver Bottini
Vom Netzwerk:
das matte Gelb der Stehlampe im Wohnzimmer. Dahinter meinte er Bewegungen zu erkennen, Philip, der herumging, vielleicht Schuhe holte. Er sah den Sessel, auf dem er Kaffee getrunken hatte, sogar die Tasse auf dem Couchtisch. Wie lange mochte der Kerl hier gestanden und ihn beobachtet haben? Sein Herz raste. Er starrte in den Nebel, drehte sich um die eigene Achse, urplötzlich kehrte die Angst zurück, und wenn er noch da war? Irgendwo im Nebel stand und ihn beobachtete? Verschwinde, dachte er, verschwinde von hier, und rief es: »Verschwinde!« Keine Antwort aus dem Nebel, kein Laut, dafür plötzlich Bewegungen, auf dem Weg vom Carport, auf der Terrasse, wo er auch hinsah, tauchten Schemen auf. Dann rief eine unbekannte Frauenstimme seinen Namen.
     
    »Und wenn er noch da ist? Da draußen wartet, bis ...«
    »Er ist fort, Herr Niemann.«
    Er presste die Lippen zusammen, schwieg.
    »Glauben Sie mir, er ist fort.«
    Er nickte.
    »Gut. Kein Obdachloser, sagen Sie?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Obwohl er wie einer aussah?«
    »Ja, aber er hatte irgendetwas ...«
    »Verstehe«, sagte die Polizistin, als er nicht weitersprach. Er spürte, dass sie nicht wusste, was sie von ihm halten sollte, aber er spürte auch, dass sie sich bemühte, ihn ernst zu nehmen.
    HESSE stand auf dem Namensschild an ihrer Brust. Sie war nicht mehr jung, um die fünfundvierzig. Sie kam ihm müde vor, müde von zu vielen Jahren im selben Beruf.
    Sie saß im Sessel vor dem Couchtisch, auf dem noch immer die leere Kaffeetasse stand, er saß auf dem Sofa. Eine zweite Polizistin war mit Philip in die Küche gegangen. Nur ihre Stimme war zu hören, Philips nicht, er sprach zu leise, wenn er überhaupt sprach. Paul Niemann dachte, dass er aufstehen und nach Philip sehen sollte, aber ihm fehlte die Kraft.
    Die Kraft, dachte er, war im Garten geblieben.
    Er zog die Luft durch die Nase hoch. Merkwürdiger Gedanke.
    »Ist Ihnen nicht gut, Herr Niemann?«
    »Ich weiß nicht. Ich ...« Er wandte sich dem Fenster zu, blickte in das Grau hinaus.
    »Er ist fort, Herr Niemann.«
    »Ich weiß nicht.«
    Auf der Terrasse und im Garten befanden sich fünf, sechs weitere Polizeibeamte, die Spuren sicherten, im Beet, an der Terrassentür. Der an der Terrassentür klopfte gegen die Scheibe, deutete mit der Hand. Paul Niemann nickte. Richtig, ungefähr da.
    Auch draußen, in den Straßen von Merzhausen, waren sie. Suchten nach dem Mann, nach Zeugen.
    Ja, sie bemühten sich, ihn ernst zu nehmen.
    »Wenn Sie ihn nicht kennen, wenn Sie ihn noch nie gesehen haben, warum glauben Sie dann, dass er wiederkommt?«
    Er zuckte die Achseln. Der Blick, dachte er. Er hat gewusst, wo er war. Er wollte zu uns. Zu
mir
.
    Sein Puls beschleunigte sich wieder. In seinen Lungen war plötzlich zu viel Luft. Er nestelte an seinem Hemdkragen herum, öffnete den zweiten Knopf. Die Polizistin war jetzt neben ihm. »Legen Sie sich hin, Herr Niemann. Wir rufen einen Arzt, ja?«
    Sie hielt ihn, als er sich zur Seite sinken ließ. Zog ihm die Schuhe aus, hob seine Beine aufs Sofa.
    »Sie atmen zu schnell. Ruhig atmen ...«
    »Und wenn er zu uns wollte?«
    »Aber wenn Sie ihn doch nicht kennen.«
    Er zuckte die Achseln.
    »Ruhig atmen, Herr Niemann.«
    Er versuchte es. Atmete ruhig. Allmählich wurde es besser.
    »Gut so ... Es ist alles in Ordnung, Herr Niemann.«
    Er nickte.
    »Alles in Ordnung. Ruhen Sie sich ein bisschen aus.«
    »Die Kraft ist im Garten geblieben«, sagte er und lächelte matt.
     
    Ein Arzt kam, diagnostizierte einen leichten Schock, gab ihm eine Spritze, ging. Dann stand Henriette im Wohnzimmer, und die einzelnen Elemente der Szenerie fanden ihr natürliches Zentrum. Nach wenigen Minuten war sie über alles im Bilde, kannte alle Namen, alle Aufgaben, alle vorläufigen Ergebnisse. Sie kümmerte sich um Philip, kochte Kaffee, stellte Thermoskanne und Tassen für die Polizisten bereit. Er folgte ihr mit dem Blick, bewunderte sie für ihre Lebenstüchtigkeit. Vage überlegte er, ob sie sich innerlich schon ein neues Leben aufgebaut hatte, während er sich noch fragte, was mit dem alten nicht mehr stimmte.
    Schließlich setzte sie sich zu ihm und der Polizistin, auf den Teppich neben dem Sofa. Ihre Hand strich hektisch über seine Schulter, seine Wange. Ihr kleines Gesicht wirkte beunruhigt und zugleich entschlossen. »Was muss das für ein Schreck gewesen sein«, sagte sie.
    Er nickte. Keine Kritik, keine Fragen, so war Henriette.
Wer sich trotzdem schämte, war selbst schuld.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher