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Im Auftrag der Väter

Im Auftrag der Väter

Titel: Im Auftrag der Väter
Autoren: Oliver Bottini
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ich’s auch nicht. Hast dich sicher getäuscht, ich meine, wär ja kein Wunder, bei dem Nebel.«
    »Ja«, sagte Philip, aber er blieb, wo er war, sah wieder nach draußen, als wäre ihm das für den Moment Beschäftigung genug, nach draußen in den Nebel sehen.
    »Sag mal, die Musik, die du da vorhin gehört hast ...«
    Philip nickte, ohne ihn anzusehen.
    »Wir haben das früher auch gesungen, die Mama und ich, das weißt du, oder?«
    »Mhm.«
    »Früher, in München.«
    »Mhm.«
    »Jedes Jahr an Allerheiligen, du warst bestimmt mal mit uns in der Kirche.« Er hielt inne. Fragte sich, wogegen er anredete. Gegen die Stille? Die Distanz zwischen ihnen?
    Gegen das, was nicht mehr stimmte.
    »Weißt du, das Besondere an diesem Requiem ist, dass es ... Es sollte kein Gebet für die Toten sein, sondern Trost
    für die Hinterbl...«
    »Da ist er«, sagte Philip leise.
    Paul Niemann drehte sich zum Fenster. Wie vorhin schien sich der Nebel zu lichten, wurde etwas Dunkles sichtbar. Aber es war nicht der Stamm der Linde, sondern ein Mann.
    Ein Mann, der in ihrem Garten stand und zu ihnen hereinblickte.
    »Tatsächlich ...«
    »Wer ist das?«
    »Ich habe keine Ahnung, Philip.«
    Der Mann bewegte sich nicht. Stand einfach da, im Regen, und sah herüber.
    »Einer von den Neuen gegenüber?«
    »Vielleicht, ja, das könnte sein.«
    Philip trat neben ihn. »Sieht aber eher wie’n Penner aus.«
    Paul Niemann nickte, ein Penner, ja, Risse in Anorak und Hose, beides verschmutzt und nass, fehlten nur die Schnapsflasche in der einen und die Supermarkttüte in der anderen Hand. Ein Penner, den der Regen aus dem Gebüsch irgendeines Gartens der Siedlung getrieben hatte.
    »Oder hat die Mama einen Gärtner eingestellt?«
    Paul Niemann wollte antworten, da lachte Philip tonlos, ein Scherz, dankbar lachte er mit. »Am besten fragen wir ihn, was denkst du?« Er stand auf, ging zur Terrassentür. Sekundenlang sah er sein Spiegelbild in der Scheibe, ein dürrer, kleiner Mensch mit Brille, Anzughose, Hemd, viel zu ordentlich gekleidet für Samstagnachmittag, fehlte ja nur noch die Krawatte ...
    Sogar sein Spiegelbild war ihm hier unsympathisch.
    Er öffnete die Tür. Die Kälte ließ ihn frösteln. Die Kälte und eine plötzliche Verunsicherung. Was tat der Kerl in ihrem Garten? Warum ging er nicht weg?
    »Kann ich Ihnen helfen?«
    Der Mann sagte nichts, tat nichts, schaute ihn nur an. Er war jetzt deutlicher zu sehen, unrasierte Wangen, wirres, eisgraues Haar, ein älteres, verwittertes Gesicht, das an slawische Gesichter erinnerte, an russische Gesichter ...
    Paul Niemann trat über die Schwelle. »Hallo.« Seine Verunsicherung wuchs. Wie der schaute ... Und dass er nichts sagte und nichts tat, nur dastand, im Regen, zwanzig, dreißig
Meter entfernt, ein gedrungener, verwilderter Schatten im Grau,
aus
dem Grau. Paul Niemann schoss der merkwürdige Gedanke durch den Kopf, dass der Mann schon immer in ihrem Garten, schon immer ein Teil dieses Gartens gewesen war und vorher ein Teil dieses Fleckens Erde, und dass er seit Jahren, Jahrzehnten auf einen Tag wie diesen gewartet hatte, um ans Licht zu treten, ins Bewusstsein der Menschen hier, ihrer aller Albtraum ...
    Samstagnachmittags-Phantasien.
    »Brauchen Sie Hilfe? Ist etwas passiert?«
    Keine Antwort. Nur der Blick, der unverändert auf ihm lag.
    Philip trat ans Fenster. »Sag ihm, das ist
unser
Garten, er soll aus unserem Garten verschwinden.«
    »Ich weiß nicht, Philip. Vielleicht braucht er ja Hilfe.«
    »Verschwinden Sie!«, sagte Philip laut und streckte die Arme aus und bewegte die Finger vor und zurück.
    Sie warteten. Der Mann reagierte nicht.
    »Wie der schaut«, sagte Philip.
    Paul Niemann nickte. Wie der schaute, wie der dastand. Als hätte er es auf einen Streit angelegt. Als wäre er hier, um ... Er rieb sich die Augen unter der Brille. Um was?
    Samstagnachmittags-Phantasien.
    »Sag ihm, er soll verschwinden, Papa.«
    »Ganz ruhig, Philip, es ist alles in Ordnung. Ich gehe jetzt zu ihm und ...«
    »Ich weiß nicht, Papa, irgendwas ist komisch an dem.«
    »Aber nein, es ist alles in Ordnung«, wiederholte er, obwohl er sich jetzt nicht mehr sicher war, dass das stimmte.
    In diesem Moment setzte sich der Mann in Bewegung und kam langsam auf das Haus zu, auf
ihn
, und er spürte einen Anflug von Angst in der Brust und dachte, dass wirklich
etwas komisch war an dem Kerl. »Alles in Ordnung, Philip«, sagte er wieder und war plötzlich davon überzeugt, dass das nicht stimmte, dass
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