Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
Vom Netzwerk:
Lauf der Woche weiter
von einer zur anderen rotierten, verlor ich manchmal den Überblick darüber, welche
gerade welche spielte, sie aber hatten keine solchen Identifikationsprobleme.
Obwohl es wenige weitere Enthüllungen gab, begann die Geschichte, der ich den Titel
«Der Hexenzirkel» gegeben hatte, Gestalt anzunehmen. Ashley war gestürzt worden,
ihre Lüge enttarnt. Ich bezweifle, dass sie irgendwelche aufrichtige Reue empfunden
hätte, wenn sie nicht erwischt worden wäre, aber sie litt stark unter ihrem Machtverlust.
Sie war jedoch eine Überlebenskünstlerin und fing an, sich auf ihre neue Rolle in
der Gruppe einzustellen: Am Mittwoch bat sie ihr Opfer in aller Form um Entschuldigung,
und das, ob aufrichtig oder nicht, half, ihr Ansehen bei den anderen zu heben. Emma
hatte die Erwähnung ihrer kranken Schwester einen schweren Schlag versetzt, aber
das Mitgefühl der Mädchen für ihr Los als die gesunde, aber unbeachtete Schwester
stimmte sie milder, und sie trug von sich aus Nachbesserungen zu der Geschichte
und ihrer Rolle darin bei, die ich tapfer fand: «Es hat mich glücklich gemacht,
wenn Alice weinte.» Jessie mit ihren narzisstischen Plattitüden hatte eine kalte
Dusche abbekommen. Sie begriff, dass sie zu sehr von sich überzeugt gewesen war.
Sie war, fast ohne darüber nachzudenken, von dem gemeinen Anschlag angetan gewesen.
Peyton weinte im Lauf der Woche immer weniger und genoss, wie die anderen, zunehmend
das Rollenspiel. Die Katharsis des Theaters. Tatsächlich fiel ab Donnerstag auf,
dass bereits ein stillschweigendes Drehbuch geschrieben war und die Mädchen sich
voller Begeisterung in ihr eigenes Melodram gestürzt hatten. Alice büßte etwas
von ihrem Rang als romantische Heldin ein, aber ihr Leiden wurde von allen anerkannt,
und sie mischte sich mit solchem Eifer in das Leben ihrer Peinigerinnen ein, dass
Nikki am Freitag ausrief: «O Gott, Alice, du hast es ja faustdick hinter den Ohren!»
Joan stimmte natürlich zu.
    Die Geschichte,
die sie am Freitag mit nach Hause nahmen, war nicht wahr; es war eine Version, mit
der sie alle leben konnten, sehr ähnlich wie Nationalgeschichten, die Bewegungen
von Menschen und Ereignissen verschleiern und verzerren, um eine Idee aufrechtzuerhalten.
Die Mädchen wollten sich nicht selbst hassen, und obwohl Selbsthass nicht selten
ist, führte der Konsens, den sie über das Geschehene erreichten, zu einem erheblich
milderen Fazit als dem weiter vorn zitierten des Wiener Arztes. Was mich betraf,
so spürte ich am Ende, dass mir die Begegnung mit dem Hexenzirkel gutgetan hatte.
Ich wurde von allen sieben umarmt, mir wurden Loblieder gesungen, und ich bekam
ein Geschenk: eine violette Dose mit einer stark parfümierten Seife, eine Handlotion
in einer wellig geformten Flasche und ein Gefäß mit grobem Badesalz, das mit einer
lila Schleife zugebunden war. Was wollte man mehr?
    Und dann blies
es meine Daisy in die Stadt. Dieser Ausdruck mit seinen Wildwest-Assoziationen steht
dem geliebten Nachwuchs gut an. Das Mädchen hat nämlich etwas Windhaftes, eine Fähigkeit,
Wirbel zu machen, ohne viel dazu zu tun.
    Als sie aus
dem Taxi sprang, eine große Ledertasche über der Schulter, deren Reißverschluss
weit offen stand und den chaotischen Inhalt enthüllte, bekleidet mit winzigem T-Shirt,
Herrenweste, abgeschnittenen Jeans, Stiefeln, Strohhut und riesiger Sonnenbrille,
schien sie Hektik und Aufregung zu verkörpern: ein kleiner Tornado. Außerdem ist
sie eine Schönheit. Wie Boris und ich sie produziert haben, ist mir ein Rätsel,
aber die genetischen Würfel fallen eben kreuz und quer. Keiner von uns beiden ist
unattraktiv, und meine Mutter hält mich ja, wie Sie wissen, immer noch für schön,
aber Daisy ist es wirklich, und es ist schwer, das Kind nicht anzusehen, wenn es
in der Nähe ist.
    Sie ist auch
ein zärtlicher kleiner Teufel, das war sie immer schon, eine, die gern umarmt und
küsst und streichelt und Nasen reibt, und als wir auf der Türschwelle die Arme
umeinander legten, umarmten, küssten und streichelten wir uns eine Weile und rieben
unsere Nasen aneinander, ehe wir uns losließen. Und wie es manchmal vorkommt, wurde
mir erst in diesem Moment klar, wie sehr ich sie vermisst, wie sehr ich mich nach
meiner Tochter verzehrt hatte, aber Sie werden froh sein, es zu hören, ich brach
nicht in Tränen aus. Es mag wohl ein Hauch von Nässe um meine Tränenkanäle herum
gewesen sein, mehr aber nicht.
    Den Abend verbrachten
wir bei meiner Mutter, und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher