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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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die Diagnose lautet: eine kurze Psychose, eine vorübergehende
Geisteskrankheit, eine Gehirnstörung. Sie ist offiziell une folle. Sie schreibt hirnscherben in das Notizbuch.
     
    Eine hartnäckige
Sache -
    aber sprachlos,
    ohne Identität,
    ein Wachtraum
ohne Bild,
    Qualen nur.
Ein Name muss her.
    Ein Wort in
dieser weißen Welt.
    Ich muss sie
benennen, nichts kann es nicht sein.
    Wähle ein Bild
aus dem Nirgendwo, aus einem Loch im Hirn und sieh, dort an der Kante: ein blühender
Knochen.
     
    Ich reck und
streck auf hohem Roße
    Mit Sentecrat,
Bilt und Frobe,
    Meinen Kuppels
unten in Iberbean
    Der düstersten
Stutt in Freen.
     
    Mal kurz wenden,
Schatz,
    Zwei Mal kräftig
und ein Schmatz,
    Pisse und Essig.
    Scheiße und
Altbier.
    Was soll das
alles, sag es mir?
     
    Sie ist geistig
wieder gesund, sitzt im Wohnzimmer der Burdas und liest eine Biographie jenes scheuen,
aber leidenschaftlichen Genies, des dänischen Philosophen, der sie jahrelang geärgert,
verstört und verwirrt hat. Es ist der 19. August 2009.
    Sie sehen,
bin ich zu mir zurückgekehrt. Nur wenige Tage sind seit der Beerdigung vergangen.
Ich bin zu der zurückgekehrt, die ich damals war, in jenem Sommer mit meiner Mutter
und den Schwänen und Lola und Flora und Simon und den jungen Hexen von Bonden. Abigail
liegt in ihrem Grab am Stadtrand. Noch gibt es keinen Grabstein. Das kommt später.
Es ist eigentlich noch gar nicht lange her, und meine Erinnerung an jene Zeit ist
scharf. Daisy war noch bei mir. In den Tagen zuvor, dem 16., 17. und 18., hatte
Boris Izcovich mich beständig und ernsthaft umworben und mir sogar ein entsetzliches,
aber rührendes Gedicht geschickt, das folgendermaßen begann: «Ich kannte ne Frau
namens Mia,/die verstand was von Reim und Poesia.» Danach wurde es immer schlechter,
aber was kann man von einem weltberühmten Neurowissenschaftler erwarten? Das nach
diesen einleitenden Zeilen ausgedrückte Gefühl war, wie Daisy meinte, «totaler
Schmalz». Abgesehen davon haben nur die Hartherzigsten unter uns keinen Sinn für
Schmalz, Süßholz und Balladen über verlorene und tote Liebende, und nur ausgewiesene
Strohköpfe sind unfähig, Geschichten von geisterhaften Gestalten, die über Moore
und Felder oder durch die Luft wandeln, zu genießen. Und wer von uns würde Jane
Austen ihr Happy End versagen oder darauf bestehen, dass Cary Grant und Irene Dünne
am Ende von Die schreckliche Wahrheit nicht wieder
zusammenkommen? Es gibt Tragödien und Komödien, nicht wahr? Und sie sind nicht selten eher gleich als verschieden, so ziemlich
wie Männer und Frauen, wenn Sie mich fragen. Eine Komödie steht und fällt damit,
dass man die Geschichte genau im richtigen Augenblick beendet.
    Und ich will
Ihnen ganz im Vertrauen sagen, alte Freundin, alter Freund, denn das sind Sie inzwischen
geworden, standhafte Leserin, standhafter Leser, vielfach geprüft und bewährt
und mir so teuer. Ich will Ihnen sagen, dass der Göttergatte Wirkung bei mir zeigte,
wie man so sagt, und immer näher an das herankam, was immer in mir zu finden war,
und die Erklärung war Zeit, schlicht und einfach Zeit, die ganze miteinander verbrachte
Zeit, und die Tochter, die geboren und geliebt wurde und zu dem verrückten, liebenswürdigen
und begabten Schatz heranwuchs, der sie ist, und all das Reden und Streiten und
auch der Sex, zwischen mir und dem Großen B., die Erinnerungen an Sidney und an
meine eigene Celia, die nicht von Columbus entdeckt zu werden brauchte, dafür kann
ich mich verbürgen. Und in meinem geheimsten Inneren gebe ich zu, dass da ein bisschen
altes Schmalz übrig war, noch nicht ausgelöffelt von meiner Not, meiner Bedrängnis
und meinem Wahnsinn. Doch da war auch die Geschichte selbst, die Geschichte, die
Boris und ich zusammen geschrieben hatten, und in dieser Geschichte waren unsere
Körper und Gedanken und Erinnerungen so ineinander verknäult, dass sich schwer erkennen
ließ, wo der eine aufhörte und die andere anfing.
    Doch zurück
zum 19. August 2009, später Nachmittag, gegen fünf. Flora war mit Moki zu Besuch,
und Daisy unterhielt die beiden mit einer Gesangs- und Tanznummer. Flora klatschte
stürmisch und ermunterte Moki, es ihr gleichzutun. Das Wetter war nicht gut, ein
feuchtheißer Tag, wie er im Buche steht, 35 Grad und trübe, nach den Regenfällen
ausschwärmende Moskitos. Es fiel mir etwas schwer, mich auf mein Buch zu konzentrieren,
wegen der ganzen Unruhe, aber ich war endlich bei Kierkegaards gebrochenem
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