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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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Geschichte - die Tatsache, dass sie jeden Tag ad nauseam von Männern wiederholt wird, die plötzlich oder allmählich
entdecken, dass, was ist , nicht sein muss, und dann handeln,
um sich von den alternden Frauen zu befreien, die sie und ihre Kinder jahrelang
versorgt haben - dämpft nicht das Elend, die Eifersucht und die Demütigung, die
die Verlassenen überkommt. Betrogene Frauen. Ich heulte und schrie und schlug mit
der Faust gegen die Wand. Ich machte ihm Angst. Er wollte Frieden, er wollte allein
sein, um mit der kultivierten Neurowissenschaftlerin seiner Träume seiner Wege
zu gehen, einer Frau, mit der er keine Vergangenheit, keine Altlasten, keinen Kummer
und keine Konflikte hatte. Und doch sagte er Pause, nicht Stopp, um die Geschichte
offen zu halten, für den Fall, dass er seine Meinung änderte. Ein grausamer Hoffnungsschimmer.
Boris, die Wand. Boris, der nie schreit. Boris auf dem Sofa, kopfschüttelnd und
zerknirscht. Boris, der Rattenmann, der 1979 eine Dichterin heiratete. Boris, warum
hast du mich verlassen?
     
    Ich musste
aus der Wohnung, weil ich es dort nicht mehr aushielt. Die Zimmer und die Möbel,
die Geräusche von der Straße, das Licht, das in mein Arbeitszimmer fiel, die Zahnbürsten
auf der kleinen Ablage, der Schlafzimmerschrank mit dem fehlenden Knauf — sie waren
alle gleichsam schmerzende Knochen geworden, ein Gelenk, eine Rippe oder ein Wirbel
in einer strukturierten Anatomie gemeinsamer Erinnerungen; jedes vertraute Ding,
bleiern von den darin gespeicherten Bedeutungen, wog schwer in meinem Körper, und
ich merkte, dass ich die Last nicht länger tragen konnte. Also verließ ich Brooklyn
und fuhr über den Sommer nach Hause in das Provinznest, das mitten in der ehemaligen
Prärie von Minnesota liegt, dorthin, wo ich aufgewachsen war. Dr. S. war nicht dagegen.
Wir würden wöchentliche Telefonsitzungen abhalten, außer im August, wenn sie wie
immer Ferien machte. Die Universität hatte «Verständnis» für meinen Zusammenbruch
gehabt, und im September würde ich meine Lehrtätigkeit wiederaufnehmen. Es sollte
die Auszeit zwischen einem durchgeknallten Winter und einem geistig gesunden Herbst
sein, ein ereignisloser Hohlraum, den ich mit Gedichten füllen konnte. Ich würde
Zeit mit meiner Mutter verbringen und Blumen auf das Grab meines Vaters legen. Meine
Schwester und Daisy würden mich besuchen kommen, und ich war engagiert worden, im
Kulturforum des Ortes einen Poesiekurs für Jugendliche zu veranstalten. «Preisgekrönte
einheimische Dichterin bietet Workshop an» stand in den Bonden News. Der Doris-P.-Zimmer-Preis für Lyrik ist eine unbedeutende
Auszeichnung, die mir wie aus dem Nichts zugefallen war und ausschließlich Frauen
zugesprochen wird, deren Werk als «experimentell» gilt. Ich hatte diese zweifelhafte
Ehrung und den freundlicherweise damit verbundenen Scheck, wenn auch mit Vorbehalten,
angenommen, nur um dann herauszufinden, dass irgendein Preis besser ist als keiner, dass der Ausdruck «preisgekrönt»
einem Dichter, der in einer Welt lebt, die nichts von Gedichten versteht, einen
brauchbaren, obwohl rein dekorativen Glanz verleiht. Wie John Ashbery einmal sagte:
«Ein berühmter Dichter zu sein ist nicht dasselbe, wie berühmt zu sein.» Und ich
bin keine berühmte Dichterin.
    Ich mietete
ein kleines Haus am Stadtrand, nicht weit von der Wohnung meiner Mutter in einem
Gebäude ausschließlich für Alte und Uralte. Meine Mutter wohnte im Bereich der
Selbständigen. Trotz Arthritis und verschiedener anderer Beschwerden, darunter
hin und wieder gefährlich steigender Blutdruck, war sie mit siebenundachtzig bemerkenswert
agil und klar im Kopf. In der Wohnanlage waren noch zwei weitere Bereiche — für
die, die Hilfe brauchten, «Betreutes Wohnen» und das «Pflegezentrum», die Endstation.
Dort war mein Vater sechs Jahre zuvor gestorben, und obwohl es mich einmal dorthin
gezogen hat, war ich nicht weiter als bis zum Eingang gekommen, ehe ich umkehrte
und vor dem väterlichen Geist floh.
     
    Ich habe keinem
Menschen hier etwas von deinem Krankenhausaufenthalt erzählt», sagte meine Mutter
mit besorgter Stimme und sah mich mit ihren ausdrucksvollen grünen Augen unverwandt
an. «Das braucht keiner zu wissen.»
     
    Den Tropfen
Leid werd' ich vergessen der mich nun verbrüht — nun verbrüht!
    Emily Dickinson
193, zu Hilfe. Adresse: Amherst.
     
    Den ganzen
Sommer über flogen mir solche Zeilen und Sätze zu. «Wenn ein Gedanke ohne einen
Denkenden daherkommt,
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