Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
Vom Netzwerk:
unterhaltet euch. Ich hol Geschirr.» Schneller Abgang, geschwinde Rückkehr,
Abwerfen winziger Tassen und Teller auf dem Gras. Geschäftiges Zurechtrücken und
dann Kaugeräusche, schmatzende Lippen und vorgetäuschtes Rülpsen. «Es ist unartig,
beim Essen zu rülpsen. Seht mal, da kommt sie, es ist Giraffi. Passt du noch dazwischen?
Quetsch dich da rein.» Giraffi passte nicht gut hinein, also fand sich die Strippenzieherin
damit ab, den Kopf und Hals hereinzunehmen und den Körper draußen zu lassen.
    Ich wandte
mich wieder meinem Buch zu, aber die Stimme des Kindes lenkte mich hin und wieder
durch Ausrufe und lautes Summen ab. Einer kurzen Stille folgte die plötzliche Klage:
«Schade, dass ich wirklich bin. Drum kann ich nicht in mein kleines Haus gehen und
drin wohnen!»
    Ich erinnerte
mich, erinnerte mich an jene Schwellenwelt des Beinahe, in der sich Wünsche fast
verwirklichten. Konnte es sein, dass sich meine Puppen nachts regten? Hatte sich
der Löffel selbsttätig ein paar Millimeter bewegt? Hatte meine Hoffnung ihn verzaubert?
Wirkliches und Unwirkliches wie spiegelbildliche Zwillinge, so nah beieinander,
dass beide lebendigen Atem verströmten. Auch etwas Angst. Man musste gegen das unbehagliche
Gefühl angehen, dass Träume aus ihrer Gefangenschaft im Schlaf ausgebrochen und
ans Tageslicht vorgestoßen waren. «Wünschst du dir nicht, die Decke wäre der Fußboden?»,
sagte Bea. «Wünschst du dir nicht, wir könnten ...»
     
    Das Mädchen
stand etwa anderthalb Meter entfernt und starrte ernst in meine Richtung, eine pummelige,
kräftige Person von drei oder vier Jahren, mit einem Mondgesicht und großen Augen
unter der aberwitzigen Perücke. Mit einer Hand hielt sie Giraffi beim Hals, eine
von Kämpfen gezeichnete Kreatur, die aussah, als könnte sie einen Sanatoriumsaufenthalt
brauchen.
    «Hallo», sagte
ich. «Schön, dich kennenzulernen. Wie heißt du denn?»
    Sie schüttelte
heftig den Kopf, blies die Backen auf, drehte sich plötzlich um und lief weg. Schade, dass ich wirklich bin, dachte ich.
    Mein Anfall
von Nervosität vor meinem Lyrikkurs für sieben pubertierende Mädchen kam mir lächerlich
vor, und doch konnte ich die Enge in meiner Lunge spüren, meinen flachen Atem, mein
kurzes ängstliches Schnaufen hören. Ich ermahnte mich streng: Du hast jahrelang
Doktoranden im Schreiben unterrichtet, und dies sind nur Kinder. Außerdem hättest
du wissen müssen, dass in Bonden kein Junge, der etwas auf sich hält, einen Lyrik-Workshop
mitmachen würde, dass hier draußen in der Provinz Lyrik Schwächlinge, Püppchen und
Witwen bedeutet. Wieso solltest du erwarten, mehr als ein paar Mädels mit vagen
und vermutlich sentimentalen Phantasien über das Schreiben von Versen anzulocken?
Wer war ich überhaupt? Ich hatte meinen Doris-Preis, ich hatte meinen Doktor in
Komparatistik und meine Stelle an der Columbia, Anzeichen von Seriosität als Beleg
dafür, dass ich keine völlige Versagerin war. Mein Problem rührte daher, dass das
Innen mit dem Außen in Berührung gekommen war. Nachdem ich in kleinste Teilchen
zerbröselt war, hatte ich dieses forsche Vertrauen in das Funktionieren meines Verstandes
verloren, jene Erkenntnis, die mir irgendwann mit Ende vierzig gekommen war: dass
man mich zwar ignorieren könnte, dass ich es aber beim Denken mit fast jedem aufnehmen
konnte, denn dieser enorme Wust an Gelesenem hatte mein Gehirn in eine künstliche
Maschine verwandelt, die in einem Atemzug Philosophie, Naturwissenschaften und
Literatur herbeizitieren konnte. Ich ermunterte mich mit einer Liste verrückter
Dichter (manche mehr, manche weniger): Torquato Tasso, John Clare, Christopher Smart,
Friedrich Hölderlin, Antonin Artaud, Paul Celan, Randall Jarrell, Edna St. Vincent
Millay, Ezra Pound, Robert Fergusson, Velimir Chlebnikov, Georg Trakl, Gustaf Fröding,
Hugh MacDiarmid, Gerard de Nerval, Edgar Allan Poe, Burns Singer, Anne Sexton, Robert
Lowell, Theodore Roethke, Laura Riding, Sara Teasdale, Vachel Lindsay, John Ber-ryman,
James Schuyler, Sylvia Plath, Delmore Schwartz. Vom Ansehen meiner Mit-Verrückten,
-Depressiven und -Stimmenhörer aufrecht gehalten, sauste ich auf meinem Fahrrad
der Begegnung mit Bondens sieben Dichterblumen entgegen.
    Als ich von
meinem Pult aus auf meine Schülerinnen blickte, wurde ich ruhiger. Sie waren wirklich
Kinder. Sofort setzte sich die groteske, aber ergreifende Realität von halbwüchsigen
Mädchen durch, und meine Sympathie für sie schnürte mir fast die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher