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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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Psychiatrie sprang sie in ein Flugzeug nach New York. Ich sah nicht, wie
die Glastüren für sie geöffnet wurden. Meine Aufmerksamkeit hatte wohl einen Moment
lang nachgelassen, denn ich hatte auf ihre Ankunft gewartet und nach ihr Ausschau
gehalten. Ich glaube, sie hat mich gleich entdeckt, weil ich aufblickte und das
entschlossene Klick-Klack ihrer High Heels hörte, als sie auf mich zukam, sich auf
das seltsam rutschige Sofa im Besuchsbereich setzte und mich umarmte. Sobald ich
spürte, wie ihre Finger meine Arme drückten, brach die würgende Trockenheit des
antipsychotischen Kokons auf, in dem ich gelebt hatte, und ich schluchzte laut.
Bea wiegte mich und streichelte mir über den Kopf. «Mia», sagte sie, «meine Mia.»
Als Daisy mich dann zum zweiten Mal besuchte, war ich wieder normal. Die Ruine
war zumindest teilweise wiederaufgebaut worden, und ich heulte nicht vor meiner
Tochter.
    Weinkrämpfe,
Heulen, Kreischen und grundloses Lachen waren in der Abteilung keineswegs ungewöhnlich
und wurden meistens nicht beachtet. Geistesgestörtheit ist ein Zustand tiefer Selbstversunkenheit.
Es erfordert allergrößte Anstrengung, den Überblick über das eigene Selbst zu behalten,
und der Umschwung hin zur Genesung geschieht in dem Augenblick, wenn ein bisschen
von der Welt wieder eingelassen wird, wenn ein Mensch oder ein Ding die Pforte passiert.
Beas Gesicht. Das Gesicht meiner Schwester.
    Bea schmerzte
mein Zusammenbruch, aber ich fürchtete, meine Mutter würde er umbringen. Doch das
war nicht der Fall.
    Als ich ihr
in der kleinen Wohnung gegenübersaß, kam mir der Gedanke, dass meine Mutter für
mich sowohl ein Ort als auch ein Mensch war. Das viktorianische Haus an der Ecke
der Moon Street, in dem meine Eltern mehr als vierzig Jahre gewohnt hatten, mit
seinen geräumigen Salons und den zahllosen Schlafzimmern im Obergeschoss, war nach
dem Tod meines Vaters verkauft worden, und wenn ich dort vorbeiging, tat mir der
Verlust so weh, als wäre ich noch ein Kind, das nicht begreifen kann, wieso jetzt
irgendein Neureicher seine Jagdgründe bewohnt. Aber es war meine Mutter, zu der
ich nach Hause gekommen war. Es gibt kein Leben ohne einen Grund und Boden, ohne
das Gefühl für einen Raum, der nicht nur äußerlich, sondern innerlich ist - mentale
Loci. Mein Wahnsinn war durch Entzug entstanden. Als Boris mir abrupt seinen Körper
und seine Stimme wegnahm, begann ich zu driften. Eines Tages war er mit seinem Wunsch
nach einer Pause herausgeplatzt,
das war alles. Zweifellos hatte er über seine Entscheidung nachgedacht, aber ich
war an seinen Überlegungen nicht beteiligt gewesen. Ein Mann geht Zigaretten kaufen
und kommt nie zurück. Ein Mann sagt seiner Frau, er will einen Spaziergang machen,
und kommt nicht zum Essen nach Hause - nie wieder. Eines schönen Wintertages stand
mein Mann einfach auf und ging. Boris hatte nicht erwähnt, dass er unglücklich war,
hatte mir nie gesagt, dass er mich nicht wolle. Es überkam ihn einfach. Was waren
das für Männer? Nachdem ich mich mit «professioneller Hilfe» wieder zusammengestückelt
hatte, kehrte ich auf älteren, zuverlässigeren Boden zurück, ins Land von M.
    Mamas Welt
war allerdings geschrumpft und sie mit ihr. Sie aß zu wenig. Wenn sie sich selbst
überlassen war, verzehrte sie große Portionen roher Karotten, Paprika und Gurken
mit vielleicht einem winzigen Stück Fisch, Schinken oder Käse. Diese Frau hatte
jahrzehntelang für ganze Armeen gekocht und gebacken und die Nahrungsmittel in
einer riesigen Tiefkühltruhe im Keller gelagert. Sie hatte unsere Kleider genäht,
unsere Socken gestopft, Messing und Kupfer geputzt, bis es hell und kräftig glänzte.
Sie hatte für Partys Butter gerollt, Blumen arrangiert, hatte Betttücher aufgehängt
und gebügelt, die nach sauberer Sonne rochen, wenn man darin schlief. Sie hatte
abends für uns gesungen, hatte uns erbaulichen Lesestoff gegeben, Filme zensiert
und ihre Töchter gegen verständnislose Lehrer verteidigt. Und wenn wir krank waren,
machte sie dem kleinen Patienten ein Lager neben sich auf dem Fußboden, während
sie ihre Hausarbeit tat. Bei Mama war ich gern unwohl, nicht gerade mit Erbrechen
und richtig leidend, aber in einem Zustand zunehmender Besserung. Ich lag gern
in dem besonderen Bett und spürte gern Mamas Hand auf meiner Stirn, die sie dann
in mein schweißnasses Haar hinaufschob, während sie prüfte, ob ich Fieber hatte.
Ich spürte gern, wie sich ihre Beine neben mir bewegten, hörte gern, wie
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