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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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räumte ein, dass die Schwäne Glück gehabt hatten: «Bislang haben wir
noch alle Tassen im Schrank», witzelte sie. «Natürlich weiß man nie. Wir sagen immer,
dass jederzeit irgendwas passieren kann.» Dabei nahm sie die rechte Hand von ihrem
Rollator und schnipste mit den Fingern. Die Reibung war jedoch zu schwach und erzeugte
kein Geräusch - was sie einzusehen schien, denn ihr Gesicht verzog sich zu einem
schiefen Lächeln.
    Ich erzählte
George nicht, dass meine Tassen weg gewesen und wieder da waren, dass mich ihr
Verlust zu Tode erschreckt hatte, und auch nicht, dass mir, während ich mit ihr
plaudernd in dem langen Flur stand, eine Zeile von einem anderen George einfiel,
Georg Trakl: In kühlen Zimmern ohne Sinn. In kühlen sinnlosen
Zimmern.
    «Wissen Sie,
wie alt ich bin?», fragte sie nun.
    «Einhundertundzwei.»
    Sie hatte ein
ganzes Jahrhundert für sich.
    «Und Sie, Mia,
wie alt sind Sie?»
    «Fünfundfünfzig.»
    «Noch ein Kind.»
    Noch ein Kind.
    Die Nächste
war Regina, achtundachtzig. Sie war in Bonden aufgewachsen, war aber aus der Provinz
geflohen und hatte einen Diplomaten geheiratet. Sie hatte in mehreren Ländern gelebt,
und ihre Diktion hatte etwas Fremdes - vielleicht übergenau Artikuliertes -, Ergebnis
sowohl des mehrfachen Eintauchens in fremde Umgebungen als auch, so vermutete ich,
von Überheblichkeit, aber diese bewusste Zugabe war mit der Sprecherin gealtert,
bis sie nicht mehr von ihren Lippen, ihrer Zunge oder ihren Zähnen getrennt werden
konnte. Regina strahlte eine opernhafte Mischung aus Verletzbarkeit und Charme aus.
Nach dem Tod ihres ersten Mannes hatte sie noch zweimal geheiratet - beide Männer
starben plötzlich -, und seither war sie mehrmals mit anderen Männern liiert gewesen,
darunter ein flotter, zehn Jahre jüngerer Engländer. Regina war auf meine Mutter
als Vertraute und gleichgesinnte Gelegenheitsbesucherin lokaler Kulturevents —
Konzerte, Kunstausstellungen und das gelegentliche Theaterstück - angewiesen. Die
Nächste war Peg, vierundachtzig, geboren und aufgewachsen in Lee, einer noch kleineren
Stadt als Bonden, die ihren Mann in der Highschool kennenlernte, sechs Kinder mit
ihm bekam und nun eine Schar von Enkeln hatte, über die sie bis ins letzte Detail
auf dem Laufenden war, ein Zeichen beeindruckender neuronaler Gesundheit. Und schließlich
war da Abigail, vierundneunzig. Früher einmal war sie groß gewesen, doch ihre Wirbelsäule
hatte sich der Osteoporose gebeugt; die Frau hatte einen starken Buckel. Obendrein
war sie fast taub, aber gleich beim ersten flüchtigen Blick auf sie hatte ich Bewunderung
verspürt. Sie trug hübsche selbstgemachte Hosen und Pullis mit aufgenähten Äpfeln,
Pferden oder tanzenden Kindern. Ihr Mann war schon lange fort, manche sagten, tot,
andere behaupteten, geschieden, doch wie auch immer, der Gefreite Gardener war
während des Zweiten Weltkriegs oder unmittelbar danach verschwunden, und seine Witwe
oder geschiedene Frau hatte eine Lehrerausbildung gemacht und war Kunstlehrerin
an einer Grundschule geworden. «Krumm und taub, aber nicht dumm», hatte sie bei
unserer ersten Begegnung betont. «Sie können mich ruhig besuchen kommen. Ich freue
mich über Gesellschaft. Ich habe die Drei-zwei-null-vier. Sprechen Sie mir nach,
drei-zwei-null-vier.»
    Alle fünf lasen
viel und trafen sich einmal im Monat mit ein paar anderen Frauen zu einem Lesezirkel,
der, wie ich aus verschiedenen Quellen herausfand, etwas Wettbewerbsartiges an
sich hatte. Seit meine Mutter in Rolling Meadows wohnte, waren jede Menge Figuren
aus dem Theater ihres Alltagslebens von der Bühne abgetreten, um «Pflege» zu bekommen,
und nie zurückgekehrt. Meine Mutter sagte mir offen, dass jemand, der einmal das
Anwesen verließ, in «ein Schwarzes Loch» verschwand. Die Trauer hielt sich in Grenzen.
Die fünf lebten in einer intensiven Gegenwart, weil sie, anders als die Jungen,
die sich mit ihrer Endlichkeit auf eine distanzierte, philosophische Weise auseinandersetzen,
eben wussten, dass der Tod nicht abstrakt ist.
     
    Wäre es möglich
gewesen, meinen hässlichen Zusammenbruch vor meiner Mutter zu verheimlichen, ich
hätte es getan, aber wenn ein Familienmitglied abgeschleppt und in die Klapsmühle
gesperrt wird, kommen die anderen mit ihrer Sorge und ihrem Mitleid an. Was ich
furchtbar gern vor Mama versteckt hätte, war ich freiwillig bereit, meiner Schwester
Beatrice zu zeigen. Sie wurde informiert, und zwei Tage nach meiner Einlieferung
in die
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